Thalamus

Sprachlos in der Horrorklinik
Meine dritte Oktober-Rezension 2024
Der Herbst ist wirklich meine liebste Jahreszeit! Ich freue mich immer auf das saisonale Obst, Gemüse und natürlich auf die Pilze. Auch atmosphärisch geht nichts über den Herbst: Ich liebe Halloween und literarisch wird’s jetzt ebenfalls düsterer. Passend dazu lautet das Motto der Lesechallenge im Oktober: „Es wird spannend – lies ein Buch aus einem dieser Genres: Thriller, Horror, Dystopie oder Mystery“. Ein wirklich perfektes Thema, denn ich wollte schon länger den Jugendthriller „Thalamus“ von Ursula Poznanski lesen. 2021 hatte ich von der österreichischen Autorin bereits „Elanus“ gelesen, was mir damals sehr gut gefallen hat. Danach hatte ich „Thalamus“ aus dem Jahr 2018 auf meine Wunschliste gesetzt, weil sich der Klappentext wirklich spannend angehört hat. Anfang diesen Jahres habe ich das Buch dann gekauft und diesen Monat endlich gelesen.
Inhalt
Der 17-jährige Timo Römer hat nach einem schweren Verkehrsunfall mit dessen Folgen zu kämpfen. In der renommierten Rehaklinik Markwaldhof soll er lernen, wieder laufen und sprechen zu können. Logopädie, Physio- und Ergotherapie stehen bei ihm auf dem Tagesprogramm. Tatsächlich macht er dort erstaunliche Fortschritte. So kann er plötzlich wieder lesen, ist bald schon nicht mehr auf den Rollstuhl angewiesen und seine Feinmotorik verbessert sich von Tag zu Tag. Außerdem findet er in seinen Mitpatienten Carl, Valerie und Mona neue Freunde. Doch nachts geschehen in der Klinik unheimliche Dinge. Der Wachkomapatient Magnus, der mit Timo auf einem Zimmer liegt, steht auf und läuft durch die Flure. Auch Timo beginnt immer häufiger zu Schlafwandeln. Und er scheint damit nicht alleine zu sein, denn auch seine Freunde streifen in der Dunkelheit umher und sprechen verschwörerisch miteinander. Doch am nächsten Morgen scheint sich niemand mehr daran zu erinnern. Timo will herausfinden, warum die Patienten wie ferngesteuert wirken und lüftet dabei ein dunkles Geheimnis.
Cover
Die dominante Farbe des Covers ist ein kräftiges Blau, das im Hintergrund von dunkleren bis zum Zentrum in helleren Schattierungen auftritt. Auf dem Bild ist eine abstrahierte Darstellung eines Gehirns zu sehen, wobei die Hirnhäute in schwarz und weiß kontrastiert werden. Die stilisierten Nervenstrukturen winden sich nach unten und verbinden sich zu einem neuronalen Netz, in dem vereinzelt pinke Lichtblitze aufleuchten. Auch um Gehirn und Nervenbahnen herum leuchten kleine weiße Funken auf, die auf elektrische Impulse hinweisen können. Das Cover hat eine moderne, vielleicht sogar futuristische Stimmung, die den Titel „Thalamus“ sehr gut einfängt. Denn der Thalamus ist der größte Teil des Zwischenhirns, der unter anderem für Sensorik und Motorik zuständig ist. Er wird auch als das „Tor zum Bewusstsein“ bezeichnet, weil er wie ein Filter fungiert, der nur wichtige Informationen an das Großhirn weiterleiten soll. Es wird also bereits gut deutlich, dass es in diesem Buch um Neurologie bzw. Sinneswahrnehmungen und ihre Grenzen geht.
Kritik
„Noch fünf Kilometer bis zu Hannahs Haus, und der Regen ließ einfach nicht nach.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels. Der Protagonist Timo wird von einem personalen Erzähler im Präteritum begleitet. Er ist mit seinem Motorroller gerade auf dem Weg zu seiner Freundin, er hat ihr sogar ein Geschenk mitgebracht, als er auf der dunklen und nassen Straße verunglückt. Zwar wird im Fortlauf der Geschichte kontinuierlich behauptet, Timo habe einen Motorradunfall gehabt, aber die Tatsache, dass er noch minderjährig ist und sein Gefährt Probleme damit hat, einen Traktor zu überholen, beweist klar, dass es sich dabei nicht um ein Motorrad, sondern um einen Motorroller gehandelt haben muss. „Thalamus“ ist mit fast 450 Seiten und 35 Kapiteln etwas länger als „Elanus“, obwohl es weniger Kapitel hat.
Der 17-jährige Timo Römer ist der Protagonist, den der Leser erst ab dem Unfall kennenlernt. Sein genaues Aussehen wird im Buch interessanterweise nie genau beschrieben. Das lässt der Leserschaft viel Freiraum, sich mit ihm optisch zu identifizieren. Denn der Fokus liegt eher auf seinen Gedanken und Gefühlen, gerade weil er nur eingeschränkt kommunizieren kann. Seine Persönlichkeit wird stark durch seine inneren Kämpfe geformt. Anfangs ist er unsicher und verletzlich, was nach solch einem schweren Unfall auch nicht verwunderlich ist. Dennoch zeigt er sich in der Klinik zäh und widerstandsfähig. Seine Entschlossenheit, sich über seine körperlichen Einschränkungen hinwegzusetzen, ist bewundernswert. Er ist neugierig und empathisch, weshalb er schnell neue Freundschaften schließt. Trotz allem bleibt Timo im wahrsten Sinne des Wortes eine gesichtslose Figur und ein Protagonist, der mir auf Dauer nicht in Erinnerung bleiben wird.
Poznanskis Schreibstil ist klar und schnörkellos, wodurch man zügig in einen Lesefluss gerät. Die einfache, aber präzise Sprache passt sowohl sehr gut zur Zielgruppe als auch zum Genre Thriller, da sie ein schnelles Erzähltempo ermöglicht. Der Spannungsbogen wird langsam und kontinuierlich aufgebaut, wobei es für mich keine wirklichen Längen gibt. Die kleinen Cliffhanger und Plottwists am Ende eines Kapitels animieren förmlich zum Weiterlesen. Die Atmosphäre ist von Anfang an beklemmend und merkwürdig. Tagsüber wirkt die Klinik mit ihren freundlichen Mitarbeitern und dem Kuchen am Nachmittag harmlos, doch nachts schwindet der schöne Schein. Sie verwandelt sich in eine regelrechte Horrorklinik. Poznanski gelingt es ausgezeichnet, Spannung und Atmosphäre zu verweben. Die allgegenwärtige Bedrohung wird bspw. durch einen schweren Sturm verstärkt, der an den Fenstern rüttelt und Bäume entwurzelt. Diese Aspekte sind für mich wirklich die Stärken von „Thalamus“.
Deutlich kritischer sehe ich die medizinische Genauigkeit dieses Thrillers. Er spielt fast ausschließlich in der Klinik, einem Arbeitsbereich für Ärzte, Pflegekräfte oder Therapeuten. Auch Poznanski hat selbst einmal Medizin studiert und müsste deswegen ein Grundverständnis für den menschlichen Körper und den Krankenhausalltag haben. Doch leider wirkt das ganze Setting nicht bis zu Ende gedacht. So wandelt Timos Zimmernachbar Magnus nachts plötzlich umher, obwohl er tagsüber im Wachkoma liegt und nicht einmal alleine essen kann. Da ist es natürlich mehr als fraglich, ob das medizinisch überhaupt möglich ist. Eines nachts nimmt Magnus Timo seine Notklingel aus der Hand und verlässt damit das Zimmer. Blöd nur, dass diese Notklingeln immer kabelgebunden sind und einen Alarm auslösen, sobald der Stecker aus der Wand gezogen wird. Vor allem, weil später im Buch erklärt wird, dass die Klingeln plötzlich ein Kabel haben. Es wirkt eher so, als hätte damit ein Plothole gestopft werden sollen, warum Timo nicht den Knopf betätigt, wenn sein bettlägeriger Nachbar plötzlich nachts aufsteht und herumgeistert.
Weitere Ungenauigkeiten sind, dass die Pflegekräfte im Buch, wenn sie jemanden beim Essen unterstützen, es als „füttern“ (S. 46) bezeichnen. Das ist kein patientenorientiertes Vokabular, sondern sehr unprofessionell. In der Pflege wird bewusst der Begriff „anreichen“ verwendet, um Stereotype abzubauen, die Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, als hilflos oder kindisch darstellen. Hier hätte ich mir etwas mehr Sprachsensibilität gewünscht. Am schlimmsten ist jedoch, dass die Ärzte behaupten, Timo habe eine Broca-Aphasie, weshalb er nicht sprechen könne. Eine Broca-Aphasie ist eine Sprachstörung, bei der das Broca-Areal im Gehirn beschädigt ist. Zu dessen Symptomen gehört ein weitgehendes Sprachverständnis bei einem Teilverlust der Sprachproduktion. Was Timo jedoch zeigt, ist eine globale Aphasie. Das heißt, er spricht gar nicht mehr anstatt im, für die Broca-Aphasie typischen, Telegrammstil. Timo kann aber nicht einmal einzelne Wörter sprechen, was medizinisch hier einfach falsch dargestellt ist.
Generell hat Poznanski in „Thalamus“ viel Fantasie bewiesen, wie sie im Nachwort selbst zugibt. Der Sinn hinter diesen Fantastereien hat sich bei mir bis zuletzt nicht erschlossen. Lange war ich mir nicht sicher, was genau die Ursache für die seltsamen Ereignisse in der Klinik ist und in welche Richtung sich das Genre hier bewegt. Ist es eine übernatürliche Macht und geht in Richtung Mystery? Oder ist es ein Hirnimplantat wie in Science Fiction? Oder hat es etwas mit KI zu tun und der Plot wird zur Dystopie? Gegen letzteres spricht schon einmal, dass die Geschichte nicht in der Zukunft spielt, sondern etwa zur Zeit des Erscheinungsjahrs. Was auch immer ihr euch ausmalt, es würde niemals das erklären, was Timo in der Klinik erlebt. Und Poznanskis Begründung tut es auch nicht. Alles, was mit der Auflösung zu tun hat, ist so unrealistisch und so an den Haaren herbei gezogen, dass es nur irritierend ist. Oder wie es eine Deutschlehrerin formulieren würde: Ich verstehe nicht, was der Autor uns damit sagen will. Denn es ist kein dystopisches Szenario, in dem der technologische Fortschritt und seine Risiken gesellschaftskritisch beleuchtet wird. Dafür ist hier nämlich alles viel zu spekulativ und reine Erfindung, um in irgendeiner Weise eine sinnhafte Prognose zu sein.
Das Ende ist, wie meine Buddyread-Partnerin treffend geschrieben hat, total „abgespaced“. Die Auflösung ist abstrus und in mancher Hinsicht mittelschwer hirnrissig. Ich könnte das theoretisch näher begründen, möchte aber wie immer Spoiler in Rezensionen vermeiden. Nur so viel sei gesagt: „es war so abstrakt, dass es [Timo] keine Angst machte.“ (S. 383). Da geht der Horroraspekt ein wenig flöten. Letztendlich ist die Auflösung aber Geschmackssache und Poznanski gibt im Nachwort zumindest zu, dass das alles nicht wirklich Sinn ergibt. Mir persönlich hat es einfach weniger gut gefallen.
Fazit
„Thalamus“ von Ursula Poznanski ist ein guter Jugendthriller, der mit einem spannenden Schreibstil, einer düsteren Atmosphäre und einem konstanten Spannungsbogen punkten kann. Man gerät zügig in einen Lesefluss und fühlt sich durchweg unterhalten. Timo macht eine nachvollziehbare Charakterentwicklung durch, bleibt aber eine gesichtslose Figur, die wenig im Gedächtnis bleibt. Negativ sind vor allem die medizinischen Ungenauigkeiten, wie bspw. die inkorrekte Darstellung einer Broca-Aphasie. Auch die Auflösung ist extrem spekulativ und schadet der Glaubwürdigkeit dieses Thrillers. Viele Erklärungen sind zu schwammig oder unlogisch, als dass sie irgendwie befriedigend sein können. Unrealistische Auflösungen scheinen Poznanskis Ding zu sein, war doch schon das Ende von „Elanus“ sehr abwegig. Wer damit aber kein Problem hat, wird mit dem Buch aus dem Jahr 2018 eine gute Lesezeit haben. Deswegen erhält „Thalamus“ drei von fünf Federn. Da ich aktuell keine Bücher von Poznanski mehr auf dem SuB oder der Wunschliste habe, werde ich vorerst keine weiteren von ihr lesen.
