Tochter der Tiefe

29. Dezember 2025 0 Von lara

Mit Rick Riordan 20.000 Meilen unter dem Meer

Meine dritte Dezember-Rezension 2025


Das Motto für die Lesechallenge im Dezember lautet: „Lies ein Buch, das 2025 erschienen ist“. Für mich ist das immer die schwierigste Aufgabe, denn ich versuche meist die Bücher zuerst zu lesen, die ich früher gekauft habe. Ich musste also ganz am Ende meines SuBs schauen, um das passende Buch zu finden. Und da fiel mir ein Buch in die Hände, das 2025 als Taschenbuch erschienen ist. „Tochter der Tiefe“ von Rick Riordan ist ein Urban Fantasy-Jugendbuch, das ausnahmsweise mal ein Einzelband von ihm ist. Es handelt von einer Meeresakademie, deren Schüler in vier verschiedene Häuser eingeteilt sind. Das Buch ist eine Hommage an Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“ und hat anstelle von antiken Gottheiten die Geschichte um Kapitän Nemo im Fokus. Man kann „Tochter der Tiefe“ also unabhängig davon lesen, was man über Percy Jackson weiß.

Inhalt

Die 14-jährige Ana Dakkar ist Schülerin der Harding Pencroft-Akademie, einer Eliteschule für zukünftige Meeresforscher. Als sie für ihre Jahresabschlussprüfung einen Schulausflug zu einem Trainingsschiff macht, wird die Akademie jedoch bei einem Anschlag zerstört. Ana und die anderen Neuntklässler sind wahrscheinlich die einzigen Überlebenden sind. Gemeinsam mit ihrem Lehrer Mr. Hewett fliehen sie auf dem Schiff Varuna aufs Meer. Doch auch dort sind sie nicht sicher vor dem verfeindeten Land-Institut, das augenscheinlich verantwortlich für das Attentat ist. Mr. Hewett erzählt ihr, dass Ana die einzige lebende Nachfahrin von Kapitän Nemo, der Hauptfigur aus dem Roman „20.000 Meilen unter dem Meer“ ist und dass nur sie deswegen das U-Boot Nautilus steuern kann, das sie zum Sieg über das Land-Institut benötigen. Doch als Ana erfährt, dass Mr. Hewett selbst einmal Dozent am Land-Institut war, zweifelt sie, ob sie ihrem Lehrer überhaupt vertrauen kann.

Cover

Das Cover zeigt die Illustration einer dramatischen Unterwasserszene in dunklen Blau- und Türkistönen. Im Zentrum dominiert ein riesiger, rötlicher Oktopus, der mit einem seiner Tentakel ein futuristisches U-Boot umwickelt. Im Vordergrund schwimmen zwei Jugendliche in Tauchausrüstung durch die Tiefe, geradewegs auf den bedrohlichen Oktopus zu. Sie tragen Glasglocken als Tauchhelme und aus einem Gerät an ihrem Nacken steigen Luftblasen auf. Vermutlich handelt es sich dabei um Ana und Gemini Twain, die beiden Protagonisten. Ich denke, dieses Cover fängt die Atmosphäre des Buches gut ein: Es wirkt bedrohlich, cineastisch, actiongeladen und zeigt eine abenteuerliche Szene in der Tiefsee.

Kritik

„Wusstet ihr schon, dass über achtzig Prozent des Ozeans noch unerforscht sind?“, ist der erste Satz des Vorwortes, das von Roshani Chokshi geschrieben ist. Chokshi ist eine Jungendbuch-Autorin, die Fantasy-Elemente mit indischer Mythologie verbindet, ähnlich wie Riordan es bspw. mit der griechischen oder römischen Mythologie macht. Und Chokshi hat Recht: der NOAA zufolge sind mehr als 80% der Ozeane noch nicht detailliert erkundet, kartiert oder direkt beobachtet, insbesondere die Tiefsee. Nach dem Vorwort folgt dann noch eine Einleitung von Riordan darüber, wer Kapitän Nemo eigentlich ist und warum diese Romanfigur heutzutage noch Relevanz hat. Anschließend folgt noch eine kurze Vorstellung der vier Häuser der Harding Pencroft-Akademie mit ihren wichtigsten Mitgliedern. Erst dann beginnt Kapitel 1 mit der eigentlichen Geschichte. Mit nicht einmal 400 Seiten und 63 Kapiteln ist dies eines von Riordans kürzeren Werken, das man relativ zügig durchlesen kann.

Protagonistin ist die noch 14-jährige Ana Dakkar, die die Präfektin des Hauses Delfin ist. Sie ist die jüngere Schwester von Dev und seit zwei Jahren verwaist, da ihre Eltern bei einem Unglück ums Leben kamen. Da sie eine Nachfahrin von Kapitän Nemo ist, der ein indischer Adeliger namens Fürst Dakkar war, und ihre Eltern beide Inder waren, hat sie schwarze Haare, dunkelbraune Augen und einen dunkleren Teint. Sie ist hochintelligent, verantwortungsvoll und ehrgeizig. Insbesondere die Kommunikation ist ihre Stärke, typisch für Haus Delfin. Sie spricht mehrere Fremdsprachen und beherrscht die amerikanische Gebärdensprache als auch die Blindenschrift. Ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten führten dazu, dass sie zur Hauspräfektin gewählt wurde, obwohl sie erst in der neunten Klasse ist. Ana ist eine ausgezeichnete Anführerin, trifft rationale Entscheidungen und ist eine zuverlässige Freundin. Sie ist definituv sympathisch, allerdings fehlt mir bei ihr ein Makel. Sie verkörpert eine perfekte Heldenfigur, wirkt durch ihre Fehlerlosigkeit aber weniger menschlich.

Riordan hat einen zugänglichen und dynamischen Schreibstil mit einer modernen und dialogreichen Sprache, die besonders auf eine jugendliche Leserschaft zugeschnitten ist. Das Tempo ist recht schnell, denn die erzählte Zeit erstreckt sich über wenige Wochen und fast jeder Tag ist actiongeladen und nervenaufreibend. Dadurch wird der Spannungsbogen konstant hoch gehalten und es gibt keine Längen. Im Gegenteil: Manchmal fehlt es trotz des Titels etwas an Tiefe. Ich hätte gerne mehr über die Strukturen und den Alltag der Meeresakademie gelernt oder Ana auf Forschungstauchgängen begleitet, aber dafür ist die Erzählzeit einfach zu knapp bemessen. Die Atmosphäre ist geprägt von einer Mischung aus Urban Fantasy und Science Fiction. Sie ist abenteuerlich, bedrohlich und stellenweise humorvoll, also ganz typisch für Riordan, gespickt mit einer Prise futuristischer Technologie, die diesem Buch seinen Wiedererkennungswert gibt. Wer Riordans altbekannten Stil mag, wird als Leser auch hier auf seine Kosten kommen.

An der Harding Pencroft-Akademie gibt es insgesamt vier Häuser: Delfin, Hai, Kopffüßer und Orca. Die Parallelen zu Hogwarts sind hierbei sehr offensichtlich und werden auch selbstironisch zugegeben: „Und ja, wir kennen alle Harry-Potter-Witze. Trotzdem vielen Dank.“ (S. 26). Im Gegensatz zu Harry Potter erhalten die Mitglieder der Häuser unterschiedliche Ausbildungen, deren Inhalte anderen Häusern verborgen bleiben. So werden die Delfine vor allem in Kommunikation, Entdeckungen, Kryptografie und Spionageabwehr ausgebildet, während Haie deutlich kampferprobter sind. Sie lernen Kommando, Kampftaktik, Waffensysteme und Logistik. Haus Kopffüßer ist dagegen technisch versiert, denn sie werden in Ingenieurswissenschaften, angewandter Mechanik, Innovation und Verteidigungssystemen unterwiesen. Die Orcas sind für physische und psychische Gesundheit zuständig. Sie werden in Medizin, Psychologie, Meeresbiologie sowie kollektiver Erinnerung unterrichtet. Es hat Spaß gemacht, darüber nachzudenken, in welchem Haus ich wohl gelandet wäre. Wahrscheinlich wäre es bei mir Haus Orca, da ich Biologie studiert habe und außerdem medizinisch ausgebildet bin. Allgemein finde ich Psychologie auch spannend und denke, dass ich mit meinem expliziten Wissen in Haus Orca gut aufgehoben wäre.

Es ist wirklich großartig, wie inklusiv Riordan seine Bücher schreibt, um möglichst jedem jugendlichen Leser eine Identifikationsmöglichkeit zu bieten. Mit Ester Harding tritt zum Beispiel die erste Figur in seinem Universum auf, die im autistischen Spektrum ist. Ana Dakkar ist die erste weibliche Protagonistin Riordans, die ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive im Präsens schildert. Dabei schreckt Riordan nicht vor vermeintlichen Tabuthemen wie der Periode zurück und zeigt, dass junge Frauen trotz regelmäßigen Unterleibsschmerzen und Übelkeit Spitzenleistungen erbringen. Auch die Hommage an Jules Verne, insbesondere an die beiden Werke „20.000 Meilen unter dem Meer“ und „Die geheimnisvolle Insel“ ist spannend, lehrreich und abwechslungsreich. Ich wusste bspw. nicht, dass Kapitän Nemo Inder war und sich gegen die Kolonialmächte aufgelehnt hat oder dass er gegen einen Riesenkraken gekämpft hat und angeblich der erste Mensch war, der den Südpol erreicht hat. Tatsächlich war 1870 noch nicht bekannt, dass der Südpol auf dem antarktischen Kontinent und damit an Land liegt. Das alles war Nemo dank des hochtechnisierten U-Boots Nautilus möglich: Die menschengemachte Technik bezwingt hier die lebensgefährliche Natur, ein Bild, das in „Tochter der Tiefe“ auch infrage gestellt wird. Für alle, die mehr über Vernes Literaturklassiker lernen wollen, ohne die sprachlich angestaubten Lektüren tatsächlich zu lesen, ist dieses Buch eine absolute Empfehlung!

Das Ende wird für meinen Geschmack doch recht zügig abgehandelt. Den Plottwist kurz vorher habe ich leider kommen sehen, deswegen war er für mich nicht überraschend. Es gibt ein kurzes, aber spannendes Finale, jedoch fehlte dann irgendwie der Raum für abschließende Klärungen. Viele Fragen bleiben offen: Warum mussten Anas Eltern sterben? Gibt es Überlebende in der Harding Pencroft-Akademie? Welche Konsequenzen wird der Angriff für das Land-Institut haben? Wie wird der Verräter bestraft und darf er noch seinen Abschluss an der Akademie machen? Möglicherweise hält sich Riordan hier eine Hintertür für eine mögliche Fortsetzung offen, aber ich hätte mir zumindest noch eine Trauerfeier für die Toten gewünscht. Das geht in dem rasanten Plot leider komplett verloren. Trotzdem ist „Tochter der Tiefe“ ein gelungenes und lesenswertes Jugendbuch, das ich Fans von Riordan nur ans Herz legen kann.

Fazit

„Tochter der Tiefe“ ist für mich eines der besseren Jugendbücher von Rick Riordan. Ich habe es, auch dank des Hörbuchs, in kurzer Zeit beendet und hatte wirklich Spaß damit. Die Geschichte überzeugt vor allem durch ihr hohes Erzähltempo, die spannende Mischung aus Science Fiction und Fantasy sowie durch Riordans gewohnt zugänglichen, dialogreichen Stil. Besonders positiv hervorzuheben sind die inklusive Figurenzeichnung, die moderne Perspektive einer weiblichen Protagonistin und die teilweise kritische Hommage an Jules Verne. Die Idee einer fantastischen Schule mit vier Häusern ist zwar nicht neu und leider erhält man nicht so viele Einblicke in die Tiefsee wie erhofft, aber das Konzept an sich ist durchaus gelungen. Schwächen zeigt der Roman vor allem im sehr schnellen Ende, einem möglicherweise vorhersehbaren Plottwist und offenen Fragen, die emotionalen Nachhall vermissen lassen. Insgesamt überwiegen jedoch die Stärken deutlich, weshalb ich diesem empfehlenswerten Buch aus dem Jahr 2022 vier von fünf Federn gebe. Auf meinem SuB liegen noch „Magnus Chase“ und einige Bände der Reihe „Die Abenteuer des Apollo“, die ich in den nächsten Jahren auch noch lesen möchte.