Das Juwel – Die Gabe
Selection meets Die Tribute von Panem
Meine zweite Dezember-Rezension 2023
Nach dem doch eher enttäuschenden Ende von Die Chroniken von Narnia war ich recht froh, mich einer neuen Reihe widmen zu können. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, um wieder ein paar SuB-Leichen zu befreien, deswegen habe ich mich für eine Trilogie entschieden, die ich immer vor mit her geschoben habe: Das Juwel von Amy Ewing. Diese dystopische Jugendbuchreihe ist im Kielsog des Erfolges von Die Tribute von Panem erschienen und reiht sich in eine Riege dieses Subgenres mit vergleichbaren Trilogien ein, wie z.B. „Die Bestimmung“, „Cassia & Ky“, die Amor-Trilogie oder die Gaia-Stone-Trilogie. Schon das Cover erinnert sehr an „Selection“, und es gibt definitiv einige Parallelen. Gerade, weil sich mein Lesegeschmack in den letzten Jahren verändert hat, musste ich mich geradezu dazu überwinden, den ersten Band „Die Gabe“ aus dem Jahr 2015 zu lesen, aber letztlich war ich doch positiv überrascht.
Inhalt
Die 16-jährige Violet Lasting ist eine Surrogate: ein Mädchen mit übernatürlichen Fähigkeiten, das zu einer Leihmutter erzogen wird. In der Verwahranstalt Southgate lernt sie mit ihren Freundinnen Raven und Lily, Objekte durch Willenskraft zu verändern sowie den Adel zu unterhalten, der sie ab einem gewissen Alter ersteigern wird. Auch Violet und ihre Freundinnen werden in diesem Jahr zur Auktion freigegeben und in verschiedene Häuser der Oberschicht verkauft. Violet wird von der Herzogin des Hauses am See gekauft und gelangt so in den Adelsdistrikt, der das Juwel genannt wird. Dort erlebt sie nicht nur eine Welt voller Prunk und Reichtum, sondern auch eine voller Intrigen und Lügen. Schnell merkt sie, dass sie nun zur austauschbaren Ware geworden und ihr Leben nichts mehr wert ist. Doch ohne Verbündete wird Violet das Juwel nie verlassen können.
Cover
Das Cover erinnert deutlich an den Stil von Selection, wobei ich dieses Cover hier weniger schön finde. Es zeigt ein Mädchen, vermutlich die Protagonistin Violet, in einem lilafarbenen trägerlosem Kleid. Ihre dunklen Haare sind zu einer eleganten Flechtfrisur hochgesteckt. Auf dem Foto sitzt das Mädchen auf einem Boden, beide Unterarme über die Knie gelegt und den Kopf daran angelehnt. Über dem Bild ist eine Kristalloptik gelegt, die das Gesicht Violets an den Rändern des Covers spiegelt. Auf den Umschlag sind aufwendig kleine silberne Glitzerpartikel geklebt und die Schrift in Silberfolie tief geprägt. Als das Buch 2015 auf Deutsch erschienen ist, hat es vermutlich eher den Lesergeschmack getroffen, aber irgendwie sind die Cover schlecht gealtert. Sie spielen gezielt auf dieselbe Zielgruppe wie Selection an, wirken auf mich aber zu kitschig. Dass es in dieser Reihe um viel mehr als paillettenbestickte Abendkleider und luxuriöse Schlösser geht, kommt weniger stark hervor. Mir hätte ein etwas düstereres Cover besser gefallen, vielleicht sogar mit Blut.
Kritik
„Heute ist mein letzter Tag als Violet Lasting.“, ist der sehr starke, erste Satz des ersten Kapitels. Die Protagonistin Violet erzählt ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive im Präsens. Der erste Satz verrät, dass es bereits der letzte Tag vor der Versteigerung ist, der Violets Leben verändern wird. Von da an wird sie nur noch eine Nummer sein und von ihren Freundinnen getrennt werden. Eine ungewisse Zukunft wartet auf sie, in der sie vermutlich nie ihre Familie wiedersehen wird. Mich hat der Einstieg schnell gefangen genommen und ich konnte das Buch kaum weglegen. Insgesamt besteht der erste Band aus fast 450 Seiten mit 30 Kapiteln.
Die Protagonistin Violet ist zu Beginn 16 Jahre alt, 1,70m groß und wiegt 59kg. Sie hat dunkles welliges Haar und violette Augen, nach denen sie benannt ist. Sie hat ein rundes Gesicht mit großen Augen und vollen Lippen. Es ist jedoch nicht nur ihre natürliche Schönheit, die sie zu einem der begehrtesten Surrogates ihres Jahrgangs macht. Es ist auch ihr Talent, Cello spielen zu können. Ich habe Violet schnell ins Herz geschlossen. Sie ist ein tapferes, liebevolles, aber auch schüchternes Mädchen, das sich trotz aller Ängste mutig ihrer Zukunft entgegen stellt. Sie würde lieber in Armut bei ihrer Mutter leben anstatt im goldenen Käfig gefangen zu sein. Ganz besonders liebenswürdig macht sie ihr Mangel an Eitelkeit oder Oberflächlichkeit. Ich habe schnell mit ihrem Schicksal mitgefiebert!
Ewings Schreibstil zeichnet sich durch eine klare, flüssige und leicht zugängliche Sprache aus, der es aber nicht an Bildhaftigkeit oder Metaphern mangelt. Das Tempo bietet einen ausgewogenen Mix an Spannung und ruhigeren Momenten, die mich nur so durch die Seiten haben fliegen lassen. Die Atmosphäre ist geprägt von einer Mischung aus Prunk, Luxus, düsteren Geheimnissen und Intrigen. Das augenscheinlich traumhafte Setting ist gedrückt durch eine unheilvolle Stimmung, die von Kapitel zu Kapitel immer stärker wird. Auch wenn es für mich kein außergewöhnlicher Schreibstil ist, ist er doch passend.
Die dystopischen Elemente in Das Juwel haben es in sich. Das mädchenhafte Glitzercover lässt es kaum vermuten, aber es steckt mehr dahinter, als man ahnt. Es geht um Menschenhandel, Misshandlungen, Freiheitsberaubung, aufgezwungene Leihmutterschaften, Fehlgeburten und sogar den Tod. Denn soviel sei vorweg genommen: nicht jede Surrogate überlebt die Zeit bei ihren „Käufern“. Für eine Young-Adult-Dystopie geht es hier teilweise echt blutig und brutal zu. Unter Umständen können für genannte Themen Triggerwarnungen gelten. Mich hat der sozialkritische Aspekt der Dystopie aber beeindruckt.
Grundsätzlich gibt es mit Das Juwel einige Parallelen zu Die Tribute von Panem oder ähnlichen dystopischen Werken: das Leben einer weiblichen Teenagerin ändert sich an einem Stichtag (Auslese, Auktion, Evaluierung, Bankett, Zeremonie etc.) und sie gerät in einen Wettbewerb (Hungerspiele, Casting) mit Konkurrenzkämpfen. Die Protagonistin schwebt in akuter Lebensgefahr. In der Gesellschaft gibt es eine große Schere zwischen Armut und Reichtum. Die Gebiete der Stadt sind ummauert, sodass es eine räumliche Trennung zwischen den sozialen Schichten gibt. Wie Katniss ist auch Violet die älteste Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die viel zu schnell erwachsen werden und Verantwortung tragen musste. Bei beiden ist der Vater durch ein Unglück ums Leben gekommen. Die Parallelen sind nicht von der Hand zu weisen, wobei Das Juwel noch einmal feministischer ist, da es gezielt von jungen Mädchen handelt, die zu Gebärmaschinen gemacht werden. Ähnliche Ansätze gibt es bei Der Report der Magd oder der Gaia-Stone-Trilogie. Dennoch ist diese Reihe kein reiner Abklatsch, sondern eine eigenständige Geschichte mit neuen Aspekten.
Eine Sache ist mir allerdings enorm negativ aufgefallen: Ewing hat medizinisch zu wenig recherchiert und baut leider ein paar Fehler ein. Als Erstes wären da die farbigen Pupillen, ein Fehler, der mir nicht zum ersten Mal begegnet. So heißt es zum Beispiel: „Er hat bräunlich grüne Pupillen“ (S. 181) oder „dass seine Pupillen von einem warmen, tiefen Blau sind“ (S. 206). Bei Cassandra Clare oder Räuberherz sind mir auch damals schon diese Patzer aufgefallen. Denn Pupillen sind die Löcher in den Augen, durch die das Licht hereinfällt. Weil es im Augapfel dunkel ist, sind Pupillen bei jedem Menschen schwarz. Der farbige Teil des Auges, der blau, grün, grau, braun oder bei Violet violett ist, ist die Iris. Auch weil es ein Wiederholungsfehler ist, ist es einfach nur peinlich. Das sollte Allgemeinwissen sein, und wenn man sich als Autorin oder Lektorin unsicher ist, sollte man einfach mal „Auge Anatomie“ googlen. Ein völlig vermeidbarer Fehler, der das Gefühl vermittelt, das Buch sei nicht sorgfältig genug geschrieben worden. Hinzu kommt ein weiterer Fehler: „Etwas sticht mir seitlich in den Hals, und alles wird schwarz.“ (S. 343). Auch dieser Fehler ist mir schon einmal bei „Die Bestimmung – Letzte Entscheidung“ aufgefallen und in vielen Filmen gibt es das auch zu sehen, aber es gibt niemals einen Grund dafür, jemandem eine Spritze im rechten Winkel in den Hals zu jagen. Klar, das wirkt besonders brutal und gefährlich, wird aber nie so praktiziert, weil es eben wirklich gefährlich ist. Narkotika, also Mittel, die eine Bewusstlosigkeit auslösen, werden immer intravenös injiziert. Dafür sticht man aber nicht im rechten Winkel in den Hals, da es sehr unwahrscheinlich ist, so eine Vene zu treffen. Vor allem bei schnellen Überwältigungen, in denen ein Überraschungsmoment entstehen soll, oder wenn das Opfer sich wehrt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, die Person schwer zu verletzen, ohne das Narkotikum korrekt zu verabreichen. Realistischer wäre es, das Opfer mit einem Inhalationsnarkotikum zu betäuben. Das sind einfach Patzer, die nicht sein müssen, wobei ich da als medizinisch Ausgebildete besonders empfindlich bin.
Das Ende war noch einmal besonders spannend und teilweise auch überraschend. Als Leser wird man mit vielen Fragen zurückgelassen: Wird Violet Raven oder Ash jemals wiedersehen? Was ist aus Lily geworden? Wird es Violet gelingen, einen Fluchtweg aus dem Palast zu finden? Wer wird das nächste Todesopfer in dieser machtgierigen und grausamen Welt werden? Es gibt viele Gründe für mich, diese Reihe weiterzulesen.
Fazit
Insgesamt ist „Das Juwel – Die Gabe“ ein starker Auftakt der dystopischen Jugendbuchreihe. Schreibstil, Tempo und Atmosphäre nehmen die Leserschaft schnell gefangen und machen das Buch zu einem echten Pageturner. Violet ist eine liebenswürdige Protagonistin, mit der man schnell mitfiebert. Auch die dystopischen Elemente mit ihren durchaus brutalen Zügen haben mich positiv überrascht. Man muss sich lediglich darauf einstellen, dass diese Trilogie von Amy Ewing das Rad nicht neu erfindet, denn es gibt einige Parallelen zu ähnlichen Reihen, wie z.B. Die Tribute von Panem. Negativ sind vor allem die medizinischen Fehler aufgefallen, die mit ein wenig Recherche hätten umgangen werden können. Dennoch finde ich den ersten Band wirklich gut, weshalb ich dem Buch aus 2015 vier von fünf Federn geben möchte. Ich freue mich wirklich, morgen mit dem zweiten Band weitermachen zu können.