Siren

Siren
14. Mai 2022 0 Von lara

Kahlen und Akinli

Meine Mai-Rezension 2022

Letztes Jahr habe ich bereits die Selection-Reihe von Kiera Cass gelesen, die ich überraschend gut fand. Nun habe ich mit „Siren“ einen Einzelband der Autorin gelesen. Im Gegensatz zu „The Selection“ ist es keine Dystopie, sondern eine Urban Fantasy-Jugendbuch, das 2016 erschien. Geschichten von Meerjungfrauen und Sirenen haben mich schon als kleines Mädchen begeistert. Bis heute ist meine Faszination für Sagengestalten im Wasser groß. 2019 habe ich deswegen „Atlantia“ von Ally Condie gelesen, „Das wilde Herz der See“ von Alexandra Christo liegt noch auf meinem SuB. Aktuell überlege ich sogar eine Hausarbeit über weibliche Sagengestalten wie Sirenen zu schreiben. Deswegen war es besonders spannend zu erfahren, wie Sirenen heutzutage dargestellt werden.

Inhalt

Die 19-jährige Kahlen ist 1933 mit ihren Eltern und ihren jüngeren Brüdern auf einem prunkvollen Kreuzfahrtschiff, als das Schiff plötzlich in Seenot gerät. Aus dem Meer ertönen betörende Stimmen, die die Passagiere scharenweise ins Wasser springen lassen. Kahlen kann sich mit aller Macht dagegen stemmen, während sie mit ansieht, wie ihre Familie ertrinkt. Sie schreit um Gnade, und diese wird ihr unter einer Bedingung gewährt: Sie wird selbst zu einer unsterblichen Sirene und muss 100 Jahre lang dem Meer ihre Dienste leihen.
80 Jahre später sieht Kahlen immer noch aus wie eine junge Frau. Als Sirene muss sie mit ihren Sirenenschwestern alle sechs Monate ein Schiff versenken und die Passagiere ertrinken lassen, um dem Meer ein Opfer zu bringen. Ansonsten darf sie unter Menschen nicht sprechen, denn das würde diese in den Wahnsinn treiben. Da sie sich jedoch nach Gesellschaft sehnt, besucht sie in Miami regelmäßig den Campus, hört sich Vorlesungen an, aber spricht mit niemandem. In der Uni-Bibliothek begegnet sie dann dem jungen Studenten Akinli. Kahlen gibt sich als stumm aus, doch das hält ihn nicht davon ab, Zeit mit ihr zu verbringen. Doch wenn sich Kahlen verlieben sollte, riskiert sie nicht nur ihr Leben, sondern auch Akinlis.

Cover

Das Cover ist identisch mit dem Originalcover. Im Hintergrund erkennt man unten einen schmalen Rand Sandstrand, darüber liegen die Meereswellen und im oberen Drittel ein hellblauer Himmel. Der Fokus liegt auf einem Mädchen in einem goldenen Abendkleid ohne Ärmel, das mit einer Knopfleiste versehen ist. Sie hält mit beiden Händen den Saum fest. Ihre langen braunen Locken werden vom Wind nach rechts geweht, während sie dem Betrachter den Rücken zuwendet. Es sieht so aus, als wäre sie dabei, in einem Abendkleid ins Meer zu steigen. Das Mädchen soll Kahlen darstellen, die eine besondere Bindung zur See hat. Insgesamt finde ich das Cover schön. Es passt perfekt zur Thematik und gibt die Atmosphäre gut wieder. Außerdem erinnert es auch ein wenig an „The Selection“ und würde sich im Regal sicherlich gut daneben einreihen.

Kritik

„Schon seltsam, woran man festhält, was einem im Gedächtnis bleibt, wenn alles endet.“, ist der erste Satz des Prologs. Viel kann man daraus noch nicht deuten, wohl aber, dass sich hier jemand in Agonie befindet, was ein fesselnder Einstieg ist. Man beginnt direkt mit dem Sturm und den Sirenen, die die Passagiere töten. Kahlen ruft um Hilfe, drei Sirenen erscheinen, beruhigen sie, und machen ihr das Angebot, selbst eine Sirene zu werden. Allein dieser Prolog ist phänomenal geschrieben und hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Auf knapp über 350 Seiten mit 30 Kapiteln plus Prolog und Epilog erzählt die Protagonistin Kahlen ihre Geschichte im Präsens, aber überwiegend retrospektiv.
Kahlen ist ein 19-jähriges Mädchen mit langen braunen Haaren. Zumindest war sie 19, als sie zu einer Sirene wurde. Eigentlich ist sie also schon fast 100 Jahre alt, aber man sieht es ihr weder an, noch merkt man es an ihrer Persönlichkeit. Sie trägt immer noch gerne Mode aus den 1950ern wie Petticoats, Swingkleider, weite Röcke mit Wespentaille, aber fast nie Hosen. Kahlen ist modisch, wie so viele, in ihren persönlichen 30ern hängen geblieben. Dies ist aber so charmant und gibt dem Werk einen süßen Anstrich. Für mich ein kleiner Pluspunkt. An sich ist Kahlen sehr introvertiert, auch weil sie vor Menschen nicht sprechen darf. Ihre Hobbys sind Zeichnen, Backen und im Meer schwimmen. Außerdem führt sie ein Scrapbook, in dem sie jede Seite einem Opfer widmet, das sie als Sirene ertränken musste. Kahlens Liebe zu ihren Mitmenschen und ihre Liebe zur See, was gleich noch einmal vertieft wird, bringt sie in einen inneren Konflikt. Sie möchte niemanden töten, aber auch selbst nicht sterben und ihre Schwestern enttäuschen. Kahlen ist sehr sympathisch, nachdenklich und bedacht, weshalb sie eine sehr liebenswürdige Protagonistin ist. Gerade, dass sie regelmäßig den Uni-Campus besucht und schon etwas älter ist als America in „The Selection“, lässt Kahlen reifer und gefestigter wirken, was eine erfrischende Abwechslung ist.
Sirenen sind keine Erfindung Cass‘, sondern schon in der Antike Sagengestalten. Sie kommen ursprünglich aus der griechischen Mythologie, wo sie in Bildnissen anfangs aussahen wie Frauenköpfe mit Vogelkörpern oder wie schöne Frauen mit Flügeln. Man sagte ihnen eine Verwandtschaft mit Harpyien nach. Erst seit dem Mittelalter wurden die Sirenen wie ein Mischwesen aus Mensch und Fisch dargestellt, oder sogar mit Meerjungfrauen gleichgesetzt. Sie leben auf der Sireneninsel und locken mit ihrem betörenden Gesang Seefahrer in den Tod. Das mittelalterliche Christentum interpretiert die Sirenen als Symbol der Versuchung und Verführung, denen man zum Eigenschutz widerstehen sollte. Bei Cass sind Sirenen alle junge ledige Mädchen, die in Seenot geraten und verschont worden sind. Sie sind also nur magisch verwandelte, aber menschliche Frauen. Zu ihren Fähigkeiten gehört es, nicht zu altern, unter Wasser atmen zu können, schnell zu schwimmen, unverletzlich zu sein, nicht krank werden zu können und eine betörende Stimme zu haben. Außerdem müssen sie weder schlafen noch essen, können es aber weiterhin tun. Wenn sie im Wasser sind, webt sich auf magische Weise ein kristallenes Kleid um sie, einen Fischschwanz bekommen sie allerdings nicht. Auch die Verwandlung in eine Sirene ist keine Idee Cass‘ gewesen, so findet sie sich schon im 12. Jahrhundert bei der Sagengestalt der Melusine. Die Gestaltung eines menschlicheren Wesens mit magischen Fähigkeiten, die über die Stimme hinaus gehen, finde ich gut gelungen.
Auch die Darstellung der See selbst ist sehr interessant. Sie wird hier als denkendes und fühlendes Wesen gezeigt, das mit ihren Sirenen sprechen kann, wenn diese Kontakt zu Wasser haben. Dabei reicht es, im Regen zu stehen, durch eine Pfütze zu laufen oder den Schnee zu berühren. Kahlens Verhältnis zur See ist ambivalent. Einerseits fühlt sie sich bei ihr geborgen. Die See ist für sie wie eine mütterliche Göttin, die sie verehrt und der sie ihr Herz ausschütten kann. Andererseits fühlt sich Kahlen immer wieder von ihr abgestoßen, vor allem, weil sie sie dazu zwingt, mit ihrem Gesang Menschen in den Tod zu reißen. Man weiß selbst nicht, ob die See zu diesen Todesopfern wirklich gezwungen ist, ob es keine anderen Optionen gibt, oder ob sie im Grunde genommen böse ist und ihre zärtlichen Komplimente an ihre Sirenen nur zur Manipulation nutzt.
Leider gibt es auch kleinere negative Kritikpunkte, vor allem ein paar Logikfehler. Zum Beispiel, woher all das Geld kommt, mit dem die Sirenenschwestern ihren Lebensunterhalt finanzieren. Zwar malt Miaka Bilder, die sie verkauft, aber reicht das wirklich für ein großes Haus in Miami, Eintritte in Clubs und Shoppingtouren? Kann ich mir kaum vorstellen. Auch dass die Sirenen zwar die Gebärdensprache erlernen mussten, aber scheinbar jede Fremdsprache beherrschen, so ist Miaka Japanerin und Padma Inderin ohne nennenswerte Schulbildung, wird nicht erklärt. Generell wird der Fantasy-Aspekt hier überwiegend klein gehalten und schöpft nicht sein volles Potenzial aus.
Ein Aspekt, der mich nur teilweise überzeugen konnte, war die Liebesbeziehung zwischen Kahlen und Akinli. Erst einmal habe ich mich tierisch darüber gefreut, dass er endlich mal kein Bad Boy ist. Akinli ist in Kahlens Anwesenheit schüchtern, freundlich und verständnisvoll. Bei ihrem ersten Date backen sie gemeinsam eine kleine Torte, was unheimlich süß ist. Allerdings ist er dermaßen idealisiert, dass er zu künstlich wirkt. Er ist immer gelassen, verzeiht Kahlen all ihre Fehlverhalten, während jeder normale Typ wahrscheinlich den Kontakt zu ihr abgebrochen hätte, nachdem sie plötzlich mitten im Date verschwindet und sich nicht mehr meldet. Auch dass Akinli später einen Schicksalsschlag verkraften muss, wirkt zu gewollt Mitleid heischend. Kurzum, Akinli ist ein liebenswürdiger Good Guy, der allerdings schon zu perfekt ist, als dass er echt wirkt.
Cass‘ Schreibstil ist vergleichbar mit dem in Selection: flüssig, schnörkellos und leicht verständlich. Auch wenn die Geschichte recht temporeich erzählt wird und sich über mehr als ein Jahr erstreckt, ist „Siren“ insgesamt nicht sonderlich spannend. Vielmehr liegt der Fokus auf einer atmosphärischen, maritimen Erzählung, die ab und zu von Schockmomenten und Unglücken durchbrochen wird. Es sind die kleinen Momente, wie Spaziergänge am Meer oder der Besuch eines Restaurants, die der Geschichte ein magisches Leuchten verleihen. Deswegen ist die verhältnismäßig ruhige Geschichte auch kein Minuspunkt.
Vor allem konnte mich Cass mit ihrem Mut dazu begeistern, auch erstere Themen in ihr Jugendbuch einzubauen. So geht es in „Siren“ peripher auch um Sexismus, häusliche Gewalt und familiäre Probleme. Es ist ein raffinierter Schachzug, dass diese Sirenen, die ihren Ursprung in der misogynen griechischen Mythologie finden, hier selbst Opfer von Misogynie sind und gewissermaßen zu ihrer Rolle gezwungen werden. Somit sind sie vielmehr Opfer als Täterinnen.
Das Ende ist recht vorhersehbar. Ich hätte mir doch etwas mehr Action, Überraschungen oder Twists gewünscht. Dennoch ist es auch berührend und ein süßer Abschluss eines Fantasy-Einzelbandes.

Fazit

Es ist schon schade, dass „Siren“ sich nicht so großer Beliebtheit erfreut wie „The Selection“ von Kiera Cass. Denn ich finde, es ist eine ganz besondere Perle, die die Autorin hier erschaffen hat. Eine reife, tapfere Protagonistin in Petticoats gemischt mit einer magischen Atmosphäre von US-amerikanischen Großstädten wie Miami oder New York sowie dem Meer in ständiger Reichweite, sind wirklich zauberhaft. Auch eine süße Liebesgeschichte mit dem Good Guy Akinli, der aber leider etwas zu makellos ist, macht Spaß zu lesen. Dass, wie andere kritisiert haben, das Fantasy-Jugendbuch aus dem Jahr 2016 im Plot etwas plätschert, hat mich kaum gestört, im Gegenteil. Der entschleunigte Stil ist aufgrund seiner Atmosphäre sehr schätzenswert. Nur die Logikfehler, auf die es bis zum Schluss keine Antworten gibt, haben das Leseerlebnis leicht getrübt. Deswegen gebe ich dem Einzelband vier von fünf Federn. Trotzdem werde ich in Zukunft erst einmal keine weiteren Bücher von Cass lesen. Was mir noch bliebe, wäre die Promised-Reihe, von der ich bisher oft gehört habe, dass sie mit „The Selection“ nicht mithalten kann. Die Kritiken sind überwiegend verhalten, der Klappentext liest sich für mich wie ein Abklatsch der Selection-Reihe. Deshalb werde ich meine Aufmerksamkeit vorerst auf andere Autor:innen lenken.