Ein wenig Leben
Eine Menge Leid
Meine zweite Mai-Rezension 2024
„Ein wenig Leben“ ist ein Gegenwartsroman, den ich mir selbst sicherlich nie gekauft hätte. Das Cover, das einem zwar gefühlt in jeder Buchhandlung ins Auge springt, tut dies eher aufgrund seiner Hässlichkeit. Auch der Klappentext wirkte auf mich eher nichtssagend. Tatsächlich habe ich „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara 2018 von einem Patienten geschenkt bekommen, der es wiederum von seinen Angehörigen erhalten hatte. Der 2016 erschienene Roman, der von einer New Yorker Männerfreundschaft erzählt, gehörte damals zu den meistverkauften Büchern. Über die Geste habe ich mich zwar sehr gefreut, allerdings habe auch ich lange gebraucht, um mich für diese Lektüre bereit zu fühlen. Doch „Ein wenig Leben“ ist ein Werk, das mich mit seiner Einzigartigkeit überraschen konnte.
Inhalt
Jude St. Francis, Willem Ragnarson, Malcolm Irvine und Jean-Baptiste Marion, kurz JB, sind eine eingeschworene Männerclique, die seit dem College enge Freunde sind. So ziehen die Freunde Jude und Willem bspw. gemeinsam in eine kleine New Yorker Wohnung in der Lispenard Street kurz vor Chinatown. Der erfolglose Schauspieler Willem muss dem körperlich behinderten Jude öfter unter die Arme greifen, da ihm das Laufen schwerfällt. Als Jude erneut von einer heftigen Schmerzattacke geplagt wird, nimmt der Künstler JB heimlich ein Foto von ihm auf und verwendet es als Vorlage für ein Portrait. Auf der Vernissage kommt es dann zum Eklat, als Jude sich in diesem verletzlichen Gemälde wiedererkennt, das ohne seine Zustimmung angefertigt wurde. Doch JB weigert sich, sich für diese Grenzüberschreitung zu entschuldigen, da dieses Bild sein erfolgreichstes ist und er dadurch in der New Yorker Kunstszene an Anerkennung gewinnt. Die jahrelange Männerfreundschaft droht zu zerbrechen.
Cover
Dass ich das schwarzweiße Cover dieses Romans furchtbar finde, habe ich schon häufiger betont, aber die Geschichte dahinter ist durchaus interessant. Diese Fotografie eines Mannes mit zugekniffenen Augen und zusammen gezogenen Brauen, der seine rechte Gesichtshälfte an seinen gekrümmten Handrücken lehnt, heißt „Orgasmic Man“ und ist vom US-amerikanischen Fotografen Peter Hujar. Hujar war als Fotograf vor allem bekannt dafür, der New Yorker Schwulenszene der 1960er bis 1980er eine Bildfläche zu bieten, bis er 1987 selbst an den Folgen von AIDS verstorben ist. Zu Lebzeiten war der Fotograf wenig erfolgreich und lebte teilweise an der Armutsgrenze. Ein Großteil seiner Ausstellungen fand posthum statt. Das 1969 aufgenommene „Orgasmic Man“ gilt heute nicht zuletzt als Hujars bekanntestes Werk, weil es das Cover von „Ein wenig Leben“ ziert. Yanagihara hat auf die Verwendung der Fotografie bestanden und sich gegen ihren amerikanischen Verlag durchgesetzt, der das Bild als zu intim und zu voyeuristisch empfand. Es soll gerade deswegen so eine Faszination ausüben, da man nicht mit Bestimmtheit sagen könne, ob der Mann auf dem Bild Schmerzen oder Lust empfinden würde. Auf eine gewisse Art ist das Foto also sehr passend gewählt, auch wenn es auf mich immer noch den Eindruck macht, der Mann hätte heftige Verstopfung und kämpft gerade auf der Toilette. Aber er hat wohl einfach nur einen Orgasmus.
Kritik
„Die elfte Wohnung hatte nur einen einzigen Schrank, aber es gab eine gläserne Schiebetür, die auf einen kleinen Balkon führte, von dem aus er einen Mann im Haus gegenüber sehen konnte, der nur mit T-Shirt und kurzen Hosen bekleidet im Freien saß und eine Zigarette rauchte, obwohl es schon Oktober war.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels im ersten Teil namens „Lispenard Street“, der bereits Yanagiharas Vorliebe für Schachtelsätze zeigt. Die Geschichte beginnt also mit der Wohnungsbesichtigung von Jude und Willem, die gemeinsam in einer so kleinen Wohnung zusammenziehen, dass sie sich ein Zimmer teilen müssen. Insgesamt besteht „Ein wenig Leben“ aus sieben Teilen: „Lispenard Street“, „Der Postmann“, „Maske und Kostüm“, „Das Gleichheitsaxiom“, „Die glücklichen Jahre“, „Werter Genosse“ und erneut „Lispenard Street“, wodurch sich offenbar ein Kreis schließt. Mit über 950 Seiten und nur sehr wenigen Kapiteln braucht man hierfür durchaus einen langen Atem. Die ungekürzte Hörbuchfassung geht nahezu 36 Stunden.
Protagonisten sind die vier Männer Jude, Willem, Malcolm und JB, deren Leben über vier Jahrzehnte beleuchtet wird. Im Zentrum der Gruppe steht dabei Jude, ein hochintelligenter Anwalt, der aufgrund eines Unfalls schwere Beeinträchtigungen der Wirbelsäule mit daraus resultierender Schwäche in den Beinen hat. Doch nicht nur körperlich ist er gebrochen, er kämpft auch mit psychischen Leiden und spricht mit seinen Freunden niemals über seine Kindheit. Willem ist Schauspieler mit finanziellen Problemen, weshalb er nebenbei noch kellnern muss. Er ist sehr empathisch und beliebt bei Frauen wegen seines Sonnyboy-Images. Malcolm hat einen schwarzen Vater und eine weiße Mutter, weshalb er sich keiner Ethnie wirklich zugehörig fühlt. Er ist ein eher schlecht bezahlter Architekt und wohnt mit Ende 20 noch bei seinen Eltern. JB ist ein schwarzer Maler, der sich ein Atelier mit anderen Künstlern teilt. Zudem ist er ist ein egoistisches Muttersöhnchen, das sich von seinen Tanten hofieren lässt. Auch wenn nicht alle vier Protagonisten gleichermaßen sympathisch sind, sind sie stark ausgearbeitet und gerade die Gefühlswelt dieser Männer ist überzeugend.
„Ein wenig Leben“ wird oft als modernes, urbanes Märchen über eine Männerfreundschaft verkauft, nicht zuletzt, weil das Buch trotz New York als reales Setting viele unrealistische Szenen beinhaltet. Einen Einstieg in diesen Roman zu finden, kostet Zeit und es gab immer wieder Stellen, die mich irritiert haben. So ist z.B. innerhalb von zwei Seiten zweimal die Rede von Cambridge, wovon einmal die englische Universitätsstadt gemeint ist (mir bekannt), und einmal ein Vorort von Boston (mir unbekannt). Da stutzt man schon das ein oder andere Mal, wenn die Jungs plötzlich mit dem Auto von Boston nach Cambridge fahren, und dann im Restaurant plötzlich davon reden, dass jemand in Cambridge studiert habe, wobei dann plötzlich wieder das echte Cambridge in England gemeint ist. Vor allem hat „Ein wenig Leben“, typisch für einen Gegenwartsroman keinen linearen Plot, sondern besteht aus einer Aneinanderreihung von Alltagssituationen, Rückblenden, Dialogen und Anekdoten, die ein kunterbuntes Mosaik ergeben. Man muss sich also auf diese Abenteuerreise ohne festes Ziel einlassen können. Es geht hier vielmehr um Momentaufnahmen, die man fühlen soll.
Doch nicht immer geht es hier um schöne Momente, denn es werden Themen angesprochen, die einer Triggerwarnung bedürfen. In „Ein wenig Leben“ geht es unter anderem um Selbstverletzung, Suizid, Verstümmelung, Drogenkonsum, häusliche Gewalt, sexuellen Missbrauch, Vergewaltigungen und Zwangsprostitution. Dabei sind die entsprechenden Szenen schonungslos brutal. Menschen mit Borderline, Depressionen, Suizidgedanken oder Traumata aus sexueller bzw. häuslicher Gewalt sollten sich wirklich zweimal überlegen, ob sie dieses Buch lesen sollten. Selbst für mich, die glücklicherweise nicht von Triggern betroffen ist, ist das Buch an manchen Stellen kaum auszuhalten. Denn wenn man denkt, es könne nicht schlimmer kommen, kommt es noch schlimmer. Dies ist keine leichte Lektüre für Zwischendurch, sondern eine Menge Leid gedruckt auf Papier.
Ein wichtiger Aspekt des Romans ist, dass er historisch nicht kontextualisierbar ist. Die Autorin sagte in einem Interview mit Denis Scheck, dass sie historische Ereignisse wie 9/11 oder HIV bewusst ausgelassen habe, um den Fokus stärker auf die Gefühlsebene der Figuren lenken zu können. Damit macht sie es sich aber meiner Meinung nach zu einfach, da es schlichtweg nicht möglich ist, einen Gegenwartsroman zu schreiben, dessen Handlungszeit sich nicht zumindest auf ein Jahrzehnt begrenzen lässt. So wird bspw. erwähnt, dass die Protagonisten als Studenten Handys und Laptops nutzten, Avocadotoast und Smoothies zum Frühstück haben oder jemand Crystal Meth konsumiert. Das sind alles Anzeichen für mindestens die 2000er als Handlungszeitraum, demnach müsste das Ende des Buches, etwa 40 Jahre später, in unserer heutigen Zukunft liegen. Dennoch gibt es keine spürbaren technologischen Entwicklungen. Der fehlende zeitliche Kontext soll dem Roman zudem etwas Märchenhaftes verleihen. Auf mich wirkt die Geschichte aber zu entrückt.
Ein Kritikpunkt ist für mich, dass der Roman fast ausschließlich Männer als handelnde Figuren hat. Das wäre bei der Clique aus vier Männern nicht weiter schlimm, wären nicht alle wichtigen Nebenfiguren, die das Leben der Protagonisten beeinflussen, ebenfalls Männer. Die wenigen im Roman vorkommenden Frauen sind meist passiv und für den Plot kaum relevant. „Ein wenig Leben“ beleuchtet die patriarchalische Seite der Gesellschaft. Den Bechdel-Test hätte dieses Buch nicht bestanden. Die homosexuelle Liebesbeziehung, die einer der Protagonisten mit jemandem eingeht, scheint gefühlt nur deswegen zu entstehen, weil Yanagihara den Kontakt zu Frauen auf ein Minimum reduziert. Diese Liebe ist nicht glaubhaft, weil der Protagonist zuvor keine homoerotischen Gedanken oder Beziehungen hatte. Obwohl man ihn hunderte Seiten lang kennenlernt, kommt der Wandel der Sexualität wie aus dem Nichts, was ebenfalls nicht besonders glaubhaft ist.
Yanagiharas Stil beweist außergewöhnlich feines Sprachgefühl. Sie verwendet lebhafte Beschreibungen und detaillierte Charakterentwicklungen, um tief in das Leben und die Psyche ihrer Figuren einzutauchen. Mit ihrer intensiven, poetischen und doch eher nüchternen Sprache schafft sie eine eindringliche Atmosphäre, die nicht vor erschütternden Bildern zurückschreckt. Dabei ist das Tempo stark entschleunigt und bedacht. Yanagihara lässt sich Zeit, die Figuren immer tiefer zu beleuchten, bis man auf die Knochen gestoßen ist. Dadurch entstehen allerdings auch so manche Längen. Inhaltlich passiert stellenweise sehr wenig. Erst die zweite Hälfte nimmt erzählerisch an Fahrt auf. Ich empfehle euch deswegen dringend, das von Torben Kessler gelesene Hörbuch zu nutzen, um zähere Stellen zu beschleunigen. Er liest wirklich grandios! Ich habe es gerne beim Kochen, Backen, Putzen oder zum Einschlafen gehört.
Das Ende reißt dem Leser noch einmal den Boden unter den Füßen weg. Ein schlimmer Schicksalsschlag folgt auf den nächsten. Der Abschluss ist deprimierend und so leidvoll, dass es einen zerschmettert zurücklässt. Deswegen hier noch mal eine klare Warnung: Lest dieses Buch nicht, wenn es euch psychisch nicht gut geht und beachtet unbedingt die Triggerwarnungen!
Fazit
Es scheint fast unmöglich, diesen umfangreichen Gegenwartsroman in einem kurzen Absatz zu bewerten. Einerseits hat mich der Schreibstil Hanya Yanagiharas völlig begeistert. Mit was für einer Eindringlichkeit, Komplexität und Detailgenauigkeit sie diese Geschichte erzählt, ist fantastisch. Selten sind charakterliche Entwicklungen und tiefgreifende Emotionen so gnadenlos ungeschönt beschrieben. Ich war, als ich das Buch beendet hatte, fertig mit den Nerven. „Ein wenig Leben“ wird in mir nachhallen, da es unbeschreiblich eindrucksvoll ist. Dennoch wird es nicht zu meinen Lieblingsbüchern gehören, da mich mit dem mangelnden zeitlichen Kontext, der patriarchalischen Perspektive, der unglaubwürdigen Liebesbeziehung sowie den ordentlichen Längen in der ersten Hälfte zu viel gestört hat. Hinzu kommt, dass ich von der Geschichte etwas anderes erwartet hatte, z.B. einen stärkeren Fokus auf die Dynamik der Männerclique und nicht auf die Biografie eines einzelnen Protagonisten. Außerdem ist der 2016 erschienene Roman so deprimierend, dass er in manchen Lebenssituationen zu belastend sein kann. Es ist schade, dass der Verlag es nicht für nötig erachtet, Triggerwarnungen zu nennen. „Ein wenig Leben“ ist ein gutes Buch, für das man sich aber ganz bewusst entscheiden sollte. Deswegen bekommt es von mir drei von fünf Federn. Weitere Bücher von Yanagihara werde ich eher nicht lesen.
Ihr braucht eine Zweitmeinung? Nina von „Litaffin“ hat ebenfalls eine sehr lesenswerte Rezension über dieses Buch verfasst:
Litaffin: Das Buch, das seine Leser:innen beendet