Zersetzt

Zersetzt
18. März 2024 0 Von lara

Ein FSK18-Trip nach Transnistrien

Meine zweite März-Rezension 2024


Auch wenn mich „Zerschunden“ von Michael Tsokos im Januar nicht begeistern konnte, wollte ich die Reihe trotzdem zeitnah fortsetzen. Vor allem, da sich die Bände relativ unabhängig voneinander lesen lassen, hatte ich Hoffnungen, dass der zweite Band „Zersetzt“ aus dem Jahr 2016 besser ist. Vielleicht lag meine Motivation aber auch darin, dass ich die Reihe endlich abhaken wollte. Schnell hat mich jedoch eines irritiert: Obwohl nach dem Klappentext dies „der zweite True-Crime-Thriller von Michael Tsokos“ ist, ist dieses Buch eine Vorgeschichte des ersten Bands, also vielmehr ein Prequel. Davon wollte ich mich aber nicht entmutigen lassen, denn die Inhaltsangabe löst eine regelrechte Gänsehaut aus. Wer Tsokos übrigens einmal persönlich treffen will, kann Tickets für seinen populärwissenschaftlichen Vortrag „Faszination Rechtsmedizin“ erwerben. Er tourt von April bis Juni diesen Jahres unter anderem in Cottbus, Stuttgart, Regensburg und Essen. Dort zeigt er in 90 Minuten konkrete Fallbeispiele inklusive Fotomaterial und erklärt mysteriöse Todesfälle. Aber Vorsicht: Das ist nichts für schwache Nerven!

Inhalt

Der 46-jährige Rechtsmediziner Dr. Fred Abel arbeitet in Berlin bei der BKA-Einheit „Extremdelikte“, wodurch ihm regelmäßig außergewöhnliche Todesfälle begegnen. So ist zum Beispiel im Keller des Berliner Abgeordnetenhauses die Leiche eines Putzmannes gefunden worden, der den ersten Untersuchungen zufolge an Waterboarding gestorben ist, einer brutalen Foltermethode, die auf dem ersten Blick keine Spuren hinterlässt.
Außerdem soll Abel eine Leiche obduzieren, die angeblich eines natürlichen Todes aufgrund von Lebermetastasen gestorben sein soll. Doch als Dr. Abel keinen einzigen Tumor, dafür aber eine Einstichstelle in der Kniekehle findet, wird er skeptisch. Denn vor gut zwanzig Jahren hat er von einem Giftmord gehört, der viele Parallelen zu diesem Fall aufweist. Möglicherweise ist dies die Handschrift eines Serienmörders, der jahrzehntelang auf freiem Fuß ist.
Viel Zeit hat er für diese Fälle jedoch nicht, denn der transnistrische Präsident bittet das deutsche BKA um die Unterstützung bei der Identifizierung zweier Leichen, die in einem Container voller stark ätzendem Calciumoxid gefunden wurden. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei den Leichen um die Brüder Spiridon und Artemij Stepanov handelt, die Kontakte zum Geheimdienst Transnistriens hatten. Doch der Pseudostaat ist von Korruption und mafiösen Strukturen gezeichnet. Als neutraler Gutachter begibt sich Abel mit seinem Flug in die Hauptstadt Tiraspol also auf ein politisches Minenfeld, das ihn sein Leben kosten könnte.

Cover

Das Cover zeigt überscharf einen hellgrauen, groben und schmutzigen Leinenstoff, der von kleineren und größeren Löchern durchzogen ist. Eines scheint offensichtlich das Brandloch einer Zigarette zu sein, das von einer bräunlichen Verfärbung umrandet ist. Am auffälligsten ist jedoch das größte Loch in der unteren Hälfte, durch das rötliches Gewebe leuchtet. Es erinnert an eine Fleischwunde, die schmerzhaft durch den zerschlissenen Stoff scheint. Dieser abgewetzte Stoff mutet durchaus in Richtung „Zersetzt“ an. Obwohl das Cover nichts Gewalttätiges zeigt, zeugt es doch von einer Brutalität, bei der es einem unheimlich werden kann. Seid also vorgewarnt: Dieses Buch ist absolut nichts für Minderjährige!

Kritik

Noch bevor sich die Leserschaft dem Prolog zuwendet, steht ganz zu Beginn des Thrillers der Vermerk: Die Handlung in „Zersetzt“ spielt zehn Monate vor den Ereignissen in „Zerschunden“. Das hat mich erst einmal sehr irritiert, denn offiziell ist dies der zweite Band der Abel-Reihe. Wieso ist er also ein Prequel und spielt chronologisch vor dem ersten? Warum ist „Zersetzt“ dann nicht der erste Band der Reihe? Ich kann es bis heute nicht verstehen, zumal in „Zerschunden“ Abel regelmäßig an seinen Einsatz in Transnistrien zurückdenkt, den er laut eigener Aussage nur knapp überlebt hat, was für diesen Band ein Spoiler ist. Allerdings einer, für den ich unschuldig bin. Solltet ihr die Abel-Reihe von Tsokos also lesen wollen, kann ich euch nur empfehlen, nicht in der offiziellen Reihenfolge zu lesen, sondern mit „Zersetzt“ zu beginnen und danach den ersten Band zu lesen. Ich habe keinen blassen Schimmer, warum dies nicht ohnehin die offizielle Reihenfolge ist, denn nach dem ersten Band wird man mit einem bösen Cliffhanger zurückgelassen, der sich anscheinend erst im dritten Band auflösen wird.

„Die kleine Schlampe kapierte rein gar nichts.“, ist der erste Satz des Prologs, der typisch für einen Thriller, erst einmal mit der Täterperspektive beginnt. Der Täter, der sich selbst „Barry“ nennt, hat eine junge Frau namens Jana entführt und sie irgendwo in einem Keller an ein Bett gefesselt, damit er seine perversen sexuellen Fantasien an ihr ausleben kann. Hier muss ich noch einmal ganz klar sagen: „Zersetzt“ ist absolut nichts für schwache Nerven. Es müssen Triggerwarnungen wegen Gewalt, Folter, Misshandlungen, Vergewaltigungen, detaillierter Beschreibung von Leichen und menschlichen Überresten sowie blutigen Szenen allgemein ausgesprochen werden. Die Vergewaltigungen sind teilweise erschreckend detailliert und überschreiten sicherlich für einige die Grenzen des Erträglichen. Seid euch vor dem Lesen also bitte bewusst, dass dieser Thriller Hardcore ist.

Insgesamt schlägt sich Dr. Abel mit drei unterschiedlichen Fällen herum: dem mysteriösen Giftmord an einem Immobilienmakler, den Waterboarding-Fällen sowie den zwei zersetzten Leichen in Transnistrien. Außerdem erlebt die Leserschaft die Torturen der entführten Jana hautnah mit. Doch was hat Janas Entführung mit den drei anderen Fällen zu tun? Und hängen die drei Fälle vielleicht irgendwie miteinander zusammen, wo doch zumindest zwei von ihnen augenscheinlich politisch motiviert sind? Obwohl alle Fälle für sich spannend sind, zerstören sie manchmal unfreiwillig den Spannungsbogen durch die Sprünge zwischen den Fällen. Es dauert eine ganze Weile, bis sich der Fokus auf einen Erzählstrang festlegt, wodurch sich dann auch endlich die Sogwirkung auftritt. Zu viele Köche verderben den Brei und zu viele Stränge den Thriller. Im Vergleich zu „Zerschunden“ hat sich hier allerdings zumindest ein guter Lesefluss entwickelt.

Positiv zu erwähnen ist auf jeden Fall, dass dieser Thriller informativ und lehrreich ist, und das nicht nur in rechtsmedizinischer Hinsicht. Erst durch „Zersetzt“ habe ich gelernt, was Waterboarding ist, wie es genau funktioniert und welcher Geheimdienst bekannt dafür ist, es angewendet zu haben. Aber auch, dass Transnistrien ein Pseudostaat ist, der sich 1991 von Moldawien abgespalten hat, bis heute aber kein anerkannter Staat ist, habe ich durch diesen Thriller gelernt. Offiziell gehört Transnistrien also zu Moldawien, allerdings hat der Zwergstaat, der 12% der Fläche Moldawiens einnimmt und im Nordosten an die Ukraine grenzt, eine eigene Regierung, Währung sowie eigenes Militär. Zwar wird Transnistrien international nicht als souveräner Staat anerkannt, hat in seinem Bemühen um Unabhängigkeit aber militärische Unterstützung von Russland erhalten. Der ausgesandte „Friedenstrupp“ mit gut 1500 russischen Soldaten, hat den Einfluss Russlands auf diese Region stark vergrößert. Dennoch erkennt auch Russland Transnistrien nicht als eigenes Land an. Neben den vielen brutalen und blutigen Szenen des Thrillers kann man sowohl inhaltlich als auch sprachlich sein Allgemeinwissen verbessern.

Negativ sind mir vor allem ein paar Logikfehler aufgefallen. Unter anderem gelingt es der entführten Jana bspw. zu Beginn von „Zersetzt“, sich aus den Fesseln zu befreien und den Entführer mit einer Spritze zu betäuben, die eigentlich für sie gedacht war. Obwohl ihr bewusst ist, dass er früher oder später wieder aufwachen wird, kann sie sich nicht dazu überwinden, ihn zu töten, da die Tür mit einem vierstelligen Zahlenschloss verriegelt ist und sie den Code nicht kennt. Das ist deswegen nicht logisch, da sie im Prinzip nur alle Kombinationen von 0000-9999 ausprobieren müsste, um zu entkommen. Das würde zwar einige Stunden dauern, allerdings steht in dem Raum auch ein Kasten Mineralwasser, sodass sie dafür sogar Tage Zeit hätte. Stattdessen aber zu warten, bis der Entführer wieder aufwacht und damit zu riskieren, erneut von ihm überwältigt und vergewaltigt zu werden, scheint mir kein sinnvolles Handeln zu sein. Auch dass Spritzen hier wahllos im 90°-Winkel irgendwo in der Körper gehauen werden und sofort wirken, oder dass jemand eine Schlag auf den Hinterkopf bekommt und stundenlang bewusstlos ist, sind Thriller-Klischees, die wenig mit der Wirklichkeit zu haben. Von einem Rechtsmediziner als Autoren hätte ich mir da doch etwas mehr Realitätsnähe gewünscht.

Einen ganz besonderen Fehler habe ich hier ebenfalls bemerkt. Ich nenne ihn den „Kalender-Fehler“, der mir übrigens schon in anderen Thrillern wie Die Anbetung von Dean Koontz oder Abgeschlagen von Michael Tsokos aufgefallen ist. Tsokos ist also Wiederholungstäter. Der Fehler bedeutet, dass sich die angegebenen Daten und Wochentage nicht mit einem potenziellen Handlungsjahr vereinbaren lassen. Zur Erklärung: „Zersetzt“ beginnt an einem Dienstag, dem 5. September und spielt zehn Monate vor den Ereignissen in „Zerschunden“. Der erste Band beginnt wiederum an einem Donnerstag, dem 2. Juli. Hier liegen also definitiv zwei Folgejahre vor. Anhand anderer politischer und technischer Merkmale müssen die beiden Jahre in den 2010ern liegen, denn hier ist die Rede von der „Kanzlerin“ (Merkel einzige deutsche Kanzlerin 2005-2021), Jewgeni Schewtschuk als transnistrischen Präsidenten (2011-2016) und dem neuesten Blackberry (werden seit 2022 nicht mehr produziert). In „Zerschunden“ bin ich noch davon ausgegangen, dass die Handlung 2015 spielt, da sich Datum und Wochentag miteinander vereinbaren lassen. Dementsprechend müsste „Zersetzt“ dann 2014 spielen, allerdings war der 5. September 2014 ein Freitag und kein Dienstag. Tatsächlich ist es kalendarisch nicht möglich, dass diese Konstellation in zwei Folgejahren auftritt, egal ob Schaltjahr oder nicht. Wenn im ersten Jahr der 5. September ein Dienstag war, so wie bei „Zersetzt“, ist der 2. Juli im Folgejahr zwangsläufig ein Montag, bei einem Schaltjahr ein Dienstag, aber niemals ein Donnerstag. Ist das jetzt ein gravierender Fehler? Nein. Hätte er sich dennoch mithilfe von einmal googlen beseitigen lassen? Ja. Ich mag vielleicht eine zu pedantische Kalendermaus sein, allerdings merkt man an solchen Kleinigkeiten eben, ob ein Buch bis ins Detail durchdacht ist oder nicht.

Das Ende konnte mich leider nicht überzeugen. Es gibt keinen Plottwist und über des Rätsels Lösung stolpert Abel förmlich in den letzten drei Kapiteln ohne eigenes Zutun. Dabei ist die Auflösung weder sonderlich spannend noch überraschend. Selten wurde ein Thriller so unspektakulär aufgelöst. Stattdessen stürzt Abel sich im Epilog schon wieder auf den nächsten Fall, der dann wohl im dritten Band genauer beleuchtet wird.

Fazit

Eines steht fest: „Zersetzt“ ist ein spürbar besserer True-Crime-Thriller als „Zerschunden“. Vor allem die thematisierten Fälle und die Sogwirkung sind deutlich stärker. Neben den blutigen Szenen ist der Thriller sehr lehrreich, nicht nur in medizinischer Hinsicht. Warum der zweite Band eigentlich die Vorgeschichte zum ersten, aber dennoch eine Fortsetzung sein soll, habe ich allerdings nicht verstanden. Trotzdem gibt es mit den Logikfehlern, dem Kalender-Fehler und dem doch recht unspektakulären Ende einige negative Kritikpunkte. Zudem könnte die sprunghafte und zusammenhangslose Erzählweise in der ersten Hälfte manchen Lesern missfallen. Bitte beachtet auch die Triggerwarnungen, da verschiedene brutale Verbrechen hier detailliert beschrieben werden. Insgesamt erhält „Zersetzt“ von Michael Tsokos also gute drei von fünf Federn. Dass die Wertung hier besser ausfällt als beim Vorgänger motiviert mich, auch den dritten Band der Reihe „Zerbrochen“ zu lesen, der noch auf meinem SuB liegt.