Oliver Twist

Oliver Twist
30. Dezember 2023 0 Von lara

Ein antisemitischer Klassiker?

Meine dritte Dezember-Rezension 2023

Die Lesechallenge für den November lautete: Etwas Neues zum Abschied von etwas Altem – lies ein Buch aus einem Genre, das du nicht so oft liest. Für mich war sofort klar, dass das der Appell an mich ist, endlich mal wieder einen Literaturklassiker zu lesen. Der letzte, den ich gelesen habe, war letztes Jahr im April „Der Fänger im Roggen“. Schon seit längerer Zeit wollte ich unbedingt „Oliver Twist“ von Charles Dickens lesen, nachdem es mir eine Dozentin während meiner Ausbildung empfohlen hat. „Wenn Sie wissen wollen, was Kinderarmut früher einmal bedeutete, sollten Sie dieses Buch lesen.“ Zwei Jahre später hat mir meine Cousine dann das Buch mit den Illustrationen der Erstausgabe von George Cruikshank geschenkt. „Oliver Twist“ erschien 1839 und gilt als Gesellschaftsroman.

Inhalt

Oliver Twist wächst als Waisenkind im viktorianischen Zeitalter zuerst in einem Waisen- und später in einem Armenhaus auf. Als er sich bei den mageren Portionen, die ihm an Essen zugeteilt werden, erdreistet nach einem Nachschlag zu fragen, veranlasst dies die Leiter des Armenhauses dazu, einen Aushang anzufertigen. Wer auch immer sich Oliver annehme, erhalte obendrein fünf Pfund. Über kleinere Umwege gelangt Oliver an den Bestatter Mr. Sowerberry, der ihn zu seinem Lehrling macht. Doch der andere Lehrling Noah Claypole und die Ehefrau des Bestatters machen Oliver das Leben nicht leicht. Nach einem Streit mit Noah beschließt Oliver, Reißaus zu nehmen und nach London zu laufen. Allerdings droht Oliver ohne Bezugspersonen schnell in die Fänge einer Diebesbande zu geraten. Schneller als ihm lieb ist, wird er gegen seinen Willen in kriminelle Machenschaften verstrickt.

Cover

Da „Oliver Twist“ fast 200 Jahre alt ist, gibt es natürlich unzählige Ausgaben mit verschiedenen Covern. Meine Ausgabe beinhaltet die Illustrationen von George Cruikshank, mit dem Dickens vor allem zu Beginn seiner Karriere als Schriftsteller mehrfach zusammengearbeitet hat. Das Cover zeigt jedoch keinen Kupferstich Cruikshanks, sondern ein Gemälde, auf dem ein Junge erschöpft am Boden sitzt. Er lehnt sich an eine Mauer an, sein Kopf ist auf seine Schulter herabgesunken, seine Augen geschlossen und mit der rechten Hand stützt er sich auf den Boden. Er ist barfuß und trägt ein weißes Hemd, das den oberen Teil seiner Brust entblößt. Außerdem hat das Hemd am rechten Ärmel einen großen Riss. Dazu trägt er eine dunkelbraune Hose, die von rötlichen Hosenträgern gehalten wird, wobei der linke von seiner Schulter gerutscht ist. Auf seinem Schoß sitzt ein kleiner, dunkler Dackel. Ich dachte zuerst, dass dieser Junge Oliver sein soll, allerdings wüsste ich von keiner Szene, in der er an einer Mauer gelehnt einen Hund auf dem Schoß hat. Laut Umschlag heißt dieses Ölgemälde „A Recess on a London Bridge“ und ist von August Edwin Mulready aus dem Jahr 1879, wobei bei Eingabe in die Suchmaschine ein Gemälde erscheint, das dem Cover extrem ähnlich sieht, aber eindeutig nicht dasselbe ist, da bspw. der Hund nicht abgebildet und ein Sternenhimmel zu sehen ist. Also falls jemand von euch weiß, warum sich die Gemälde so ähnlich sehen, aber nicht dieselben sind, klärt mich bitte auf!

Kritik

„Unter andern öffentlichen Gebäuden in einer gewissen Stadt, die ich nicht nennen, aber auch andrerseits keinen erdichteten Namen beilegen möchte, befand sich eines, wie es wohl die meisten Städte, ob groß oder klein, besitzen, nämlich ein Arbeitshaus; und in diesem wurde eines Tages der kleine Weltbürger geboren, dessen Name dieses Buch trägt.“, ist der erste Satz, der wohl auch einer der längsten ersten Sätze ist, die ich dieses Jahr gelesen habe. Er rückt den Handlungsort bereits klar auf das Armenhaus, welches immer wieder Teil von Dickens Erzählungen ist sowie auf Oliver als Protagonisten. Außerdem wird hier die auktoriale und retrospektive Erzählweise verdeutlicht, wobei der Erzähler hier bereits die vierte Wand bricht, indem er sich selbst benennt sowie das Wissen äußert, dass es sich bei „Oliver Twist“ um einen Roman handelt.

Hauptfigur ist der Junge Oliver Twist, den der Leser von seiner Geburt bis zum Alter von etwa 16 Jahren begleitet. Da er als Waisenjunge in großer Armut aufwächst, ist er ein blasser, kleiner und magerer Junge, wodurch deutlich gemacht werden soll, dass die Kinder in Waisen- und Armenhäusern so wenig zu essen bekommen, dass sie unterernährt und kränklich sind. Dennoch wird Oliver auch als hübscher Junge mit großen, unschuldigen Augen beschrieben, die seine Unschuld und Naivität symbolisieren sollen. Im Allgemeinen ist Oliver ein lieber und braver Junge mit einem unerschütterlichen Moralkompass. Im Verlauf der Geschichte wird er unfreiwillig Teil einer Diebesbande, doch selbst mit großem Hunger widerstrebt es ihm noch, kriminelle Handlungen auszuführen, zu denen er gezwungen ist. Kurzum: Er ist ein süßer Engel, der das Pech hatte, arm geboren zu werden. Er ist ein Opfer seiner Umstände, da sich niemand für ihn oder sein Wohlergehen interessiert. Viel zu oft ist er bloß ein Spielball der Erwachsenen, die ihn zu ihrem Vorteil ausnutzen oder loswerden wollen. Da Dickens in diesem Roman viel Sozialkritik einbaut, ist Oliver entsprechend flach und symbolisch gezeichnet, weshalb es teilweise an charakterlicher Tiefe fehlt.

Dafür, dass der Roman schon fast 200 Jahre alt ist, lässt er sich erstaunlich leicht lesen. Natürlich sind Vokabular und Grammatik bei diesem Klassiker etwas angestaubt, denn wer redet heutzutage noch vom Schuhe wichsen oder vom Baldowern? Aber das will ich gar nicht kritisieren. Dennoch merkt man, dass dies eines von Dickens‘ früheren Werken ist, in denen er noch keinen einheitlichen Stil gefunden hat. Der Erzähler schlägt oft einen ironischen Ton an, der aber sprunghaft zwischen Sozialkritik, Komik, Romanze oder auch Melodramatik wechselt. Insbesondere in der zweite Hälfte entwickelt sich die Geschichte zu einem konventionellen Melodrama mit vorhersehbarem Ausgang. Auch will die zweite Hälfte kaum zur ersten passen. Es fühlt sich an, als würde man einen anderen Roman lesen, da Oliver zunehmend zur Randfigur wird. Vielleicht entspricht „Oliver Twist“ auch schlichtweg nicht meiner Erwartungshaltung.

Dickens übt mit seinem Gesellschaftsroman eindrucksvolle Sozialkritik aus. Er zeichnet ein düsteres Bild vom Leben in Armut im frühen Viktorianischen Zeitalter. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist so groß, dass es aus eigener Kraft kaum möglich ist, sie zu überwinden. Hinzu kommen Korruption der Behörden sowie heuchlerische Religiosität, die das Leben der Bedürftigen nur noch mehr erschweren. Denn auch wenn die Kirchenmitglieder nach außen hin Nächstenliebe und Wohltätigkeit heucheln, machen sie sich mit den Spenden doch hinterrücks die Taschen voll. Dabei macht er immer wieder auf die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft aufmerksam: Kinder. Auch der philosophische Utilitarismus nach Jeremy Bentham, der damals kulturell weit verbreitet war, wird stark kritisiert. Vereinfacht gesagt besagt dieser, dass der Mensch nur durch das Vermeiden von Schmerz und das Erleben von Freude geleitet wäre. Aus diesem Grund wurden Armen- und Arbeitshäuser so unattraktiv wie möglich gestaltet, wobei äußere Faktoren völlig außer Acht gelassen wurden. Ich glaube, es ist wichtig zu wissen, dass das komfortable Leben, das wir leben, nicht selbstverständlich ist. Wir sollten dankbar für das sein, was wir haben, denn viele Menschen werden in ihrem Leben niemals das haben, was wir haben.

Doch es gibt eine große Sache, die mir in „Oliver Twist“ immer wieder negativ aufgefallen ist: die Figur Fagin. Er ist bis heute kontrovers diskutiert. Fagin ist Anführer einer Diebesbande und Jude. Seine Optik ist durch antisemitische Stereotype gezeichnet: Er hat eine lange Hakennase und ein koboldartiges Gesicht, das oft von Gier verzerrt ist. Sein Charakter reduziert sich auf seine Habgier, seinen Geiz sowie seine Hinterlist. Er manipuliert gezielt Waisenkinder, um sein kriminelles Netzwerk zu erweitern. Er schleimt sich bei anderen ein, um sein Ziel zu erreichen. Möglicherweise ist er auch Zuhälter, was durch Nancy angedeutet wird. Zweifellos ist er der größte Antagonist der Geschichte, und ganz rein zufällig auch Jude? Klar ist: Die antisemitischen Züge Fagins sind aus gutem Grund in die Kritik geraten. Auch ich finde Fagins Darstellung kritisch, zumal er im Buch über 250 Mal „der Jude“ genannt wird, eine stark generalisierende Bezeichnung. Nicht ohne Grund wurden die besonders auf den Antisemitismus anspielenden Szenen in späteren Bearbeitungen gekürzt oder ganz gestrichen. Auch die Kupferstiche Cruikshanks zeigen Fagin als dürren Mann mit wenig Zähnen und einer großen Nase. Doch sollte man „Oliver Twist“ für seine antisemitischen Züge gänzlich canceln? Meiner Meinung nach nicht. Dickens selbst galt zu seiner Zeit als Philanthrop. Er zeigte in seiner Literatur das Leid der Armen auf, sammelte Spenden für ein Obdachlosenheim für Frauen und war von der Sklavenhaltung in den USA so abgestoßen, dass er sie öffentlich scharf kritisierte. Auf die antisemitische Darstellung Fagins angesprochen, sagte Dickens: „aber leider ist es auch wahr, dass diese Art von Verbrechern fast ausschließlich Juden sind“. Was man aus diesem Roman mitnehmen sollte, ist wie gesellschaftsfähig Antisemitismus in Europa im 19. Jahrhundert war, dass selbst eine Person im öffentlichen Leben solche literarischen Figuren schreiben konnte, und dennoch großen Erfolg hatte. Antisemitismus war einmal weit verbreitet und könnte es jeder Zeit wieder werden. Gerade weil die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland dieses Jahr deutlich zugenommen hat, sollte uns bewusst sein, wie fragil die Ablehnung von Antisemitismus ist. Fälle wie Gil Ofarim, der einen antisemitischen Vorfall erfunden hat, können schlimmstenfalls die Solidarität für tatsächlich Betroffene schmälern. Es ist wichtig, „Oliver Twist“ reflektiert und mit dem Bewusstsein zu lesen, dass Fagin antisemitische Stereotype verkörpert, die nicht der Wahrheit entsprechen.

Normalerweise spoiler ich bei Enden nicht, aber da das Buch schon über 200 Jahre alt ist, deute ich zumindest ein paar Dinge an. Die zweite Hälfte befasst sich plötzlich stark mit Olivers familiärer Herkunft und steuert jeder düsteren Atmosphäre zum Trotz auf ein vorhersehbares Happy End zu. Auf mich wirkt dieser Abschluss viel zu erzwungen, wodurch die eigentliche Moral der Geschichte ein wenig verloren geht. Denn auch Oliver schafft es streng genommen nicht aus eigener Kraft der Armut zu entkommen. Für mich ist „Oliver Twist“ trotzdem lesenswert, vor allem aber kann ich die Hörbuch-Version gelesen von Frank Stöckle empfehlen.

Fazit

„Oliver Twist“ von Charles Dickens bietet einen spannenden Einblick in die sozialen Missstände des viktorianischen Englands. Die ironische Erzählweise verleiht London eine aufregende Atmosphäre und zeigt eine düstere Gesellschaft voll Armut, Kriminalität und Waisenkindern. Die Stärke des Romans liegt in seiner scharfen Sozialkritik gegenüber verschiedener Instanzen, die die Ungerechtigkeiten dieser Zeit aufdeckt. Allerdings driftet der Plot in der zweiten Hälfte zu einem Melodrama ab. Insbesondere die Darstellung Fagins wirft einen Schatten auf das Werk. Dickens‘ Übernahme zeitgenössischer Vorurteile gegenüber Juden erfordert heute eine reflektierte Leserschaft. Insgesamt verstehe ich die Positionierung von „Oliver Twist“ aus dem Jahr 1839 als Literaturklassiker. Jedoch erfordert er eine kritische Auseinandersetzung mit dem historischen Kontext des Werkes. Deswegen kann ich diesem Gesellschaftsroman nicht mehr als drei Federn geben.