Hannibal Rising
Aufstieg eines Serienmörders
Meine Mai-Rezension 2023
Für die Lesechallenge im April sollte ich ein Buch mit einem grünen Cover lesen. „Kein Problem“, dachte ich mir. Schließlich habe ich fast 100 ungelesene Bücher auf meinem SuB (ja, ich bin buchsüchtig). Also stöberte ich durch die ersten Regalbretter, überraschenderweise ohne Erfolg. Viele Cover hatten etwas Grün, aber es war nicht die dominante Farbe. Tatsächlich gab es nur ein einziges Buch, das eindeutig grün und kein Fortsetzungsband einer Reihe ist: Hannibal Rising von Thomas Harris. Der Psychothriller aus dem Jahr 2006 ist das Prequel zu Roter Drache und Das Schweigen der Lämmer. Es erzählt die Geschichte von Hannibal Lecter, dem berühmt-berüchtigten Serienmörder und Kannibalen. Hannibal Rising rekonstruiert die Kindheit und Jugend des Mannes und beleuchtet, wie er zu dem Psychopathen geworden ist, der in Das Schweigen der Lämmer in einem Hochsicherheitstrakt inhaftiert ist.
Inhalt
Hannibal Lecter, 1933 in Litauen als Sohn eines Grafen auf Burg Lecter geboren, lebt mit seinen Eltern, seiner jüngeren Schwester Mischa und mehreren Angestellten in privilegierten Verhältnissen. Doch im Juni 1941 beginnt Hitler seinen militärischen Blitzvorstoß nach Russland über Osteuropa und die Familie muss in das Jagdhaus im anliegenden Wald flüchten, wo sie sich mehrere Jahre versteckt halten. 1945 sterben Hannibals Eltern und der Hauslehrer bei einem Gefecht zweier Kampfflugzeuge, in deren Schusslinie sie versehentlich gelangen. Seine Schwester und er, die einzigen Überlebenden, werden von einer Gruppe Plünderer gefangen genommen und im Haus ans Treppengeländer gefesselt. Der Winter ist hart, das Essen knapp und Mischa wird sehr krank. Die darauffolgenden Tage lösen in Hannibal ein schwerwiegendes Trauma aus, durch das er einen totalen Mutismus entwickelt. Er kommt in ein Waisenhaus für Jungen, in dem er mit der Zeit nicht nur den Gleichaltrigen unheimlich wird. Was auch immer mit seiner Schwester passiert ist, hat ihn zu einem emotionslosen und brutalen Menschen gemacht. Dabei hat seine blutige Karriere gerade erst angefangen.
Cover
Das Cover war für meine Leseentscheidung dieses Mal ausschlaggebend, denn der Hintergrund ist in einem satten Dunkelgrün, das nach oben und unten fließend dunkler wird. Im Vordergrund steht vor allem die Schriftzüge von Autor und Titel, die mit Großbuchstaben und einer Hochprägung hervorgehoben werden. Auffällig sind auch die angerauten Federn, die links und rechts in das Cover ragen. Sie haben eine starke Symbolik, denn sie spielen einerseits auf den flatterhaften Aufstieg eines Psychopathen an. Andererseits gibt es im Thriller bedeutende Szenen mit schwarzen Schwänen, die im Burggraben der Lecters leben und zu denen Hannibal einen engen Bezug zu haben scheint. Insgesamt lebt die Geschichte aber mehr vom Namen des Protagonisten als von einem auffälligen Cover, weshalb Autor und Titel auch so viel Raum einnehmen.
Kritik
„Die Tür zu Dr. Hannibal Lecters Gedächtnispalast befindet sich in dem Dunkel im Zentrum seines Geistes, und sie hat eine Klinke, die nur mit der Tastsinn gefunden werden kann.“, ist der erste Satz des Prologs. Hierbei wird bereits deutlich, dass der Fokus dieses Thrillers auf der Psyche des berühmten Serienmörders Hannibal liegt. In diesem Gedächtnispalast seien seine teilweise verstörenden Erinnerungen wie Ausstellungsstücke in imaginären, aber detaillierten Räumen ausgestellt, wobei manche Räume verschlossen oder von ihm nur selten betreten werden. Die Idee eines Gedächtnispalastes ist dabei nicht neu, sondern wurde bereits im 16. Jahrhundert von Gelehrten erforscht, um Wissen einfacher zu festigen und weniger zu vergessen. Hannibal bewegt sich also in sehr intellektuellen Sphären und beschäftigt sich aktiv mit seiner Psyche. Hannibal Rising hat neben dem Prolog 60 Kapitel und ist in drei Akte unterteilt. Das Buch schildert den Werdegang des Protagonisten mittels eines auktorialen Erzählers im Präteritum, der auch Ereignisse und Szenen beleuchtet, die Hannibal nicht kennt.
Im Zentrum des Plots steht die Entwicklung Hannibals zu einem blutrünstigen Kannibalen. Dabei beginnt die Erzählung im Juni 1941, als der Junge acht Jahre alt ist und endet 1954, als er 20 Jahre alt ist. Er wurde mit einem zusätzlichen Finger an der linken Hand geboren, den er später operativ entfernen ließ. Hannibal hat braunes Haar und braune Augen mit rötlichen Sprenkeln. Als junger Mann wird er als verhältnismäßig klein beschrieben. Sein Erscheinungsbild sei stets gepflegt und elegant. Anfangs ist er ein neugieriger und hochintelligenter Junge, dem aufgrund des Hauslehrers viel Bildung zuteil wird. Er hat ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern, ist tierlieb und hat einen ausgeprägten Beschützerinstinkt gegenüber seiner kleinen Schwester. Verschiedene Traumata führen schleichend zu vermehrt psychischen Problemen. Neben posttraumatischer Belastungsstörung, totalem Mutilismus und Soziopathie gesellen sich später noch ein ausgeprägter Narzissmus sowie Borderline dazu, die ihn zu einem kaltblütigen Killer werden lassen. Es ist die Faszination Serienmörder, die dafür sorgt, dass über solche Menschen Bücher geschrieben, Serien und Dokumentarfilme gedreht werden. Man will einen voyeuristischen Blick in menschliche Abgründe werfen, und zumindest versuchen zu verstehen, wie jemand zu so einem gewissenlosen Monstrum werden konnte. Und das Schlimme ist: bei Hannibal funktioniert das ziemlich gut.
Hannibal wirft als ambivalente Figur viele moralischen Fragen auf. Ist er mehr Opfer als Täter? Die Dinge, die er als Kind mitansehen musste, sind grauenvoll. Nicht zuletzt war auch die Psychotherapie in den 1940ern alles andere als wissenschaftlich fortgeschritten und kaum in der Lage, einem schwerst traumatisierten Kind zu helfen. Zumal Hannibals Charakterentwicklung schleichend verläuft, bleibt die Frage, ab wann er wirklich die Grenzen zur Bösartigkeit überschreitet. Seine ersten Morde begeht er aus Rache. Es ist eine Selbstjustiz an Menschen, die ohne ihn für ihre Verbrechen nie bestraft worden wären. Dieses Handeln ist ethisch verwerflich, aber emotional nachvollziehbar. Später vergeht er sich auch an unschuldigen Opfern mit einer Skrupellosigkeit, die zutiefst erschreckend ist. Dabei ist es gerade die Mischung aus eleganter Kultiviertheit und eiskalter Skrupellosigkeit, die Hannibal zu dieser faszinierenden und gleichermaßen abstoßenden Figur macht, die er ist.
Faszinierend sind auch die kulturell-historischen Hintergründe, die den Plot in ein glaubhaftes Setting rücken. Sei es der Zweite Weltkrieg mit dem Unternehmen Barbarossa, den genauen Modellbezeichnungen sowjetischer Panzer oder Kampfflugzeuge, als auch die Einflüsse der NS-Organisation Werwolf. Mit 13 Jahren lernt Hannibal dann Lady Murasaki kennen, die ihm die japanische Kultur näher bringt. Sie lehrt ihn Begriffe wie moribana oder kieuseru. Außerdem zeigt sie ihm Ikebana, Kalligrafie das Spielen auf der Koto und erzählt von den traditionsreichen Samurai. Diese kleinen, aber gut recherchierten Details, hauchen der Geschichte Leben ein.
Grundsätzlich hat Hannibal Rising zwischendurch immer wieder sehr atmosphärische Szenen mit einem guten Tempo, sodass man sich förmlich in der Geschichte verliert. Stilistisch macht Harris hier einen Spagat zwischen der Eloquenz des auktorialen Erzählers und der teils vulgären Figurenrede. Zwischenzeitlich wird in kurzen Phrasen Französisch gesprochen und nicht übersetzt. Ich spreche einigermaßen gut Französisch, wer die Sprache aber nicht beherrscht, muss wohl oder über nachschlagen, was gesagt wurde. Insgesamt ist der Schreibstil aber plastisch und bildgewaltig.
Hannibal Rising erhielt 2007, ein Jahr nach Veröffentlichung des Buches in Deutschland, auch eine Kino-Verfilmung. Dabei übernahmen Gaspard Ulliel und Gong Li die Hauptrollen. Die Kritiken waren vernichtend: auf Rotten Tomatoes sind es aktuell peinliche 15%. Der Film wird von Kritikern als brutal, stumpfsinnig und inkohärent beschrieben. Deswegen werde ich mir die Buchverfilmung nicht ansehen. Im Jahr 2022 wurde der Film wieder häufiger gestreamt, nachdem Ulliel, der Hannibal gespielt hat, bei einem Skiunfall tödlich verunglückt ist. Der Film wurde auch dafür kritisiert, dass Gong Li, gebürtige Chinesin, eine Japanerin verkörpert. Das hatte sie zwei Jahre zuvor bereits mit der Rolle der Hatsumomo in Die Geisha getan. Dass Ethnien in Besetzungen vermischt werden, weil es den Zuschauern vermutlich ohnehin nicht auffällt, fördert rassistische Klischees, die nicht nötig sind. Anstatt das Bild zu vermitteln, alle Asiaten sähen gleich aus, sollte meiner Meinung nach vielmehr eine kulturelle Differenzierung erfolgen. Nicht jedem Rezipienten mag dies wichtig sein. Für mich ist es jedoch ein Grund mehr, den Film nicht zu schauen.
Die zweite Hälfte des Thrillers ist dann doch eher eine Talfahrt. Die Metamorphose des kaltblütigen Hannibal ist abgeschlossen, sein Rachefeldzug offensichtlich und splatterhaft. Die Figuren verlieren an Dimension und das Ziel ist zu vorhersehbar. Ich habe schon mehrfach gelesen, dass Harris quasi dazu gezwungen wurde, Hannibal Rising zu schreiben, weil ein Drehbuch für den Film gefordert wurde, und er dies nicht einem anderen Autoren überlassen wollte. Mit der metaphorischen Pistole auf der Brust lassen sich allerdings schlecht Meisterwerke kreieren. Stellenweise ist das Werk zu erzwungen snobistisch und psychologisch wird oftmals nur an der Oberfläche gekratzt. Schade, denn hier wird, gerade zum Ende hin, noch Potenzial verschenkt.
Fazit
Hannibal Rising wird oft als eine Geschichte deklariert, die den Tod eines Jungen und die Geburt eines Monsters erzählt. Es ist die Faszination von großer Kultiviertheit, erschreckender Intelligenz und kaltblütiger Skrupellosigkeit, die Hannibal zum berühmtesten fiktiven Serienmörder der Literaturgeschichte macht. Hannibal hat einen regelrechten Kultstatus erreicht. Der Thriller ist aber noch so viel mehr als das: er ist psychologisch, raffiniert und historisch gut recherchiert. Besonders der plastische Schreibstil weiß zu überzeugen. Allerdings ist die zweite Hälfte des Romans deutlich weniger lesenswert als die erste. Ab einem gewissen Punkt ist klar, wohin der Plot führt und Überraschungen bleiben aus. Böse Zungen mögen behaupten, Thomas Harris habe den Roman bloß geschrieben, um den Hannibal-Mythos finanziell weiter auszuschlachten und den eigentlichen Plot könne man auch in ein paar Sätzen zusammenfassen. Der Rest sei nur spritzendes Blut und platzende Gedärme. Gänzlich lässt sich diese Kritik auch nicht von der Hand weisen, deswegen bekommt Hannbal Rising aus dem Jahr 2006 von mir drei von fünf Federn. Für Fans von Das Schweigen der Lämmer ist dieser Thriller eine empfehlenswerte Lektüre. Aber auch für Thrillerfans allgemein, die mit Hannibal Bekanntschaft machen möchten, bietet dieses Werk einen guten Einstieg in die Reihe. Der Folgeband Roter Drache liegt bereits auf meinem SuB. Wann ich ihn lesen werde, ist aktuell aber noch unkar.