Der große Gatsby
Träume sind Schäume
Meine zweite November-Rezension 2024
Das Motto der Lesechallenge im November lautete: „Zeitsprünge – Lies einen Klassiker deiner Wahl“. Das hat sich bei mir günstig getroffen, denn ich lese ohnehin mindestens einmal im Jahr einen Klassiker, für dieses Jahr fehlte mir aber noch einer. Ganz weit oben auf meinem SuB lag „Der große Gatsby“ von Francis Scott Fitzgerald, was zu den wichtigsten Werken der US-amerikanischen Literaturgeschichte zählt. Der Roman gilt heutzutage als Fitzgeralds Meisterwerk, der sich mit Themen wie Dekadenz, Ausschweifungen, Widerstand gegen Veränderungen und soziale Umbrüche befasst. Dabei waren die Kritiken anfangs verhalten und in den ersten Monaten nach der Publikation wurden nur etwa 20.000 Exemplare verkauft. Als Fitzgerald 1940 starb, war er davon überzeugt, dass seine Werke in Vergessenheit geraten würden. In Wahrheit gehört dieses Buch aber dem Time-Magazin zufolge zu den besten 100 englischsprachigen Romanen. 2013 wurde der Klassiker mit Oscarpreisträger Leonardo DiCaprio und Tobey Maguire in den Hauptrollen verfilmt.
Inhalt
Der 30-jährige Nick Carraway lebt im Sommer 1922 in der fiktiven Stadt West Egg auf der Insel Long Island nördlich von New York City. Obwohl es die goldenen 1920er-Jahre sind, läuft seine Tätigkeit als Wertpapierhändler an der Börse eher schleppend, und so bezieht er ein altes und bescheidenes Haus. Im palastartigen Nachbarhaus wohnt der mysteriöse Millionär Jay Gatsby, der jeden Samstag Abend eine extravagante Party feiert. Niemand weiß, wo Gatsby oder sein Vermögen herkommen, weshalb schnell Gerüchte über ihn kursieren. Nick beobachtet diese luxuriösen Feiern von seinem Fenster aus, bis er überraschenderweise eine schriftliche Einladung von Gatsby erhält. Als Nick der Einladung folgt und am Samstag Abend auf Gatsbys Party ist, bittet der Gastgeber ihn auf Umwegen, Nicks Cousine Daisy Buchanan zu sich einzuladen, denn wie sich herausstellt, ist Gatsby seit Jahren heimlich in sie verliebt. Doch Daisy ist inzwischen verheiratet und hat eine Tochter.
Cover
Bei Klassikern ist es recht typisch, dass sich über die Jahre zahllose Cover angehäuft haben. Im Fall von „Der große Gatsby“ ist es sogar so, dass viele Bücher gar kein Cover haben, da sie in einem roten oder blauen Stoffeinband mit goldenen Verzierungen gebunden sind. Andere Verlage zeigen eine Frau in der Mode der 1920er, wahlweise mit einem Mann im Arm, oder einfach nur der typischen Filzhut, der zu dieser Zeit beliebt war. Mein Cover ist das Gemälde „As others see us“ von Martin Justice. Es zeigt eine blasse Frau in einem hellroten Abendkleid und Stiefeln, die sich mit überschlagenen Beinen auf einer Chaiselongue räkelt. Sie ist stark geschminkt, was man vor allem an ihrem Lippenstift, dem dicken Rouge und dem dunklen Lidschatten erkennt. Ihre linke Hand, an dessen kleinem Finger ein klobiger schwarzer Ring steckt, hängt schlaff herunter, während sie in ihrer rechten Hand eine Zigarettenspitze mit brennender Zigarette hält, an der sie gerade gezogen hat. Auf dem hölzernen Beistelltisch neben ihr liegt ein Aschenbecher mit ausgedrückten Zigarettenstummeln sowie eine Schale mit neuen Zigaretten. Daneben stehen eine Kristallkaraffe sowie ein Glas mit einem Rest bräunlicher Flüssigkeit, vermutlich Alkohol. Das Art Déco-Gemälde ist nicht sonderlich bekannt, gibt die Atmosphäre der 1920er-Jahre aber gut wieder.
Kritik
„Als ich noch jünger und verwundbarer war, gab mein Vater mir einen Rat, der mir seither nicht aus dem Kopf geht.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels. Der Rat seines Vaters war: „denk daran, dass unter all den Menschen auf dieser Welt niemand solche Vorzüge genossen hat wie du.“ Im ersten Moment könnte man denken, dass der Ich-Erzähler, der im Präteritum erzählt, jener große Gatsby ist, der auch Titelgeber ist. Tatsächlich ist es Nick Carraway, Gatsbys Nachbar, der der durchgängige Erzähler ist. Anfangs war es auch etwas schwierig, den roten Faden des Plots zu finden, da Nick in den ersten zwei Kapiteln Gatsby nicht einmal begegnet, sondern nur von ihm hört. Das Buch ist mit über 200 Seiten und nur neun Kapiteln eher kurz. Dieser Klassiker bietet sich also perfekt an, um ihn in einer Woche durchzulesen.
Fitzgeralds Schreibstil ist elegant, poetisch und reich an Symbolik. Obwohl sich Nick von Anfang an bemüht, ein glaubwürdiger Erzähler zu sein, schweift er doch immer wieder in Tagträume und Fantastereien ab, sodass Realität und Imagination oft ineinander verschwimmen. Dies wird bereits im ersten Kapitel deutlich, als Nick seine Cousine Daisy zuhause besucht und dabei detailliert die wehenden Vorhänge beschreibt, die die Szene in eine anmutige, kunstvolle Traumwelt verwandeln. Obwohl das Buch fast 100 Jahre alt ist, ist die Sprache meist simpel und zugänglich. Spannung und Tempo sind dabei eher subtil und bauen sich allmählich auf, bis sie am Ende in einem dramatischen Höhepunkt gipfeln. Die Atmosphäre ist facettenreich und schwankt von oberflächlicher Extravaganz auf den ausschweifenden Partys bis hin zu einer tiefen Melancholie, die von einer schweren inneren Leere geprägt ist. Insgesamt findet man hier also einen lyrischen Stil, der in seiner Einfachheit aber doch eine leichte Zugänglichkeit bietet.
Eigentliche Hauptfigur ist Jay Gatsby, der geheimnisvolle Millionär. Er trägt oft maßgeschneiderte Anzüge aus edlen Stoffen, die seinen Reichtum betonen. Er wird als athletisch beschrieben und soll laut eigener Aussage mal Major in der Armee gewesen sein. Außerdem habe er eine einnehmende, fast magische Präsenz, die ihn mysteriös erscheinen lässt. Gatsby ist eine komplexe Figur, die von einem fast kindlichen Idealismus geprägt ist. Sehr früh wird klar, dass Gatsby seit Jahren hoffnungslos in Daisy verliebt ist, obwohl sie inzwischen verheiratet ist. Seine Liebe zu ihr ist seine größte Antriebskraft und sie zu erobern das Ziel, auf das er tagtäglich hingearbeitet hat. Dabei wirkt seine Hingabe geradezu naiv und unreflektiert, scheint er sich viel eher in das verliebt zu haben, was Daisy repräsentiert, nämlich Reichtum und Charme. Dabei hat Gatsby aber auch düstere Seiten, denn es macht ihm scheinbar nichts aus, eine Ehe zu korrumpieren. Das Vermögen, mit dem er Daisy beeindrucken möchte, scheint er mit illegalen Geschäften erwirtschaftet zu haben. Damit stellt er seine persönlichen Wünsche über die Moral. Grundsätzlich ist Gatsby eine interessante Figur, die viel Raum für literarische Interpretationen eröffnet.
Gatsby ist ebenfalls die Personifikation des amerikanischen Traums, der durch ihn auch infrage gestellt wird. Er ist ein Neureicher, der in New York allein aufgrund seines Vermögens beliebt ist. Seine Mitmenschen sonnen sich in dieser Dekadenz, strömen scharenweise ohne Einladung auf seine Partys, wobei sie keinerlei Interesse an ihm als Menschen zeigen. Sie sind freundlich zu ihm, ohne seine Freunde zu sein. Mit seinem Reichtum besitzt er das, was den amerikanischen Traum ausmacht, dennoch ist er ein unglücklicher und trauriger Mensch. Innerlich ist Gatsby ein einsamer Mensch, der zu naiv ist, um zu begreifen, dass man sich zwar vieles mit Geld erkaufen kann, das Wichtigste auf der Welt aber unbezahlbar bleibt: Liebe. Gatsbys Einsamkeit hinterfragt somit den amerikanischen Traum und weist auf, dass finanzieller Wohlstand nicht mit persönlichem Glück gleichzusetzen ist. Oder wie die Beatles besingen: „I don’t care too much for money, money can’t buy me love“. Auch Nicks Aussage, man könne die Vergangenheit nicht wiederholen, scheint Gatsby zutiefst zu irritieren und geradezu in eine Sinnkrise zu führen.
Weitere Motive, die in dem Roman eine große Rolle spielen sind dekadente Ausschweifungen, die sich vor allem auf Gatsbys Partys beobachten lassen sowie der Widerstand gegen Veränderungen, was besonders durch die Figur Daisy verdeutlicht wird. Dabei sind die Handlungen der Figuren nicht immer nachvollziehbar. Sie wirken geradezu unsympathisch, bspw. wenn Nick seiner Cousine verheimlicht, dass ihr Ehemann sie betrügt. Oder Daisy, die sich dumm und einfältig verhält, weshalb ich Gatsbys Faszination für sie nie nachvollziehen konnte. Wenn sie darüber spricht, dass sie hofft, ihre Tochter Pammy möge zu einem hübschen Dummkopf heranwachsen, meint sie damit auch sich selbst und ihre Überlebensstrategie in ihrer unglücklichen Ehe. So sieht sie über die extrem rassistischen Aussagen ihres Mannes Tom einfach hinweg, als würde sie dies nichts angehen. Keine der im Buch vorkommenden Figuren sind demnach liebenswürdig, da ihre Funktion vielmehr darin besteht, Fehlverhalten aufzuweisen, um Gesellschaftskritik auszuüben. Neben Rassismus werden auch Sexismus, Prohibition oder Antisemitismus kritisiert, wobei man da etwas zwischen den Zeilen lesen muss. Wenn z.B. vom Liftboy oder von den Butlern in den Herrenhäusern die Rede ist, lässt sich davon ausgehen, dass es sich dabei um Schwarze handelt, auch wenn es nicht explizit gesagt wird. Der Umgang der weißen Mehrheitsgesellschaft mit diesen Menschen verdeutlicht noch einmal, dass der amerikanische Traum nur von einer privilegierten Menschengruppe erfüllt werden kann, nämlich von weißen Männern.
Abschließend möchte ich noch einmal auf die Unterschiede zwischen Film und Buch eingehen und mich der Frage widmen, ob es eine gute Buchverfilmung ist. Im Gegensatz zum Buch rahmt der Film Nicks Erzählung in eine psychiatrische Behandlung ein, bei der der Therapeut Nick dazu animiert, die Geschichte über Gatsby zu verschriftlichen. Da der Film eine Länge von 142 Minuten bei über 200 Seiten Vorlage hat, ist die Verfilmung relativ buchgetreu und enthält regelmäßig Zitate, die wörtlich aus dem Buch entnommen wurde. Zudem gibt es nur sehr wenig Raffungen, da sich genügend Zeit gelassen wird, um die Geschichte zu erzählen. Der zentrale Plot um Gatsbys Liebe zu Daisy bleibt klar im Fokus. Auch die schauspielerische Leistung ist insgesamt sehr gut. Besonders Leonardo DiCaprio als Gatsby und Elizabeth Debicki als Jordan Baker leisten wirklich großartige Arbeit. Auch Gatbys Palast, für den das mittlerweile abgerissene Herrenhaus Beacon Towers an der Nordküste von Long Island Fitzgerald als Inspiration diente, ist perfekt getroffen. Kritisch sehe ich dagegen die opulenten, teilweise übertriebenen Visualisierungen. Als bspw. die Gäste in Oldtimern zu Gatsbys Party fahren, haben diese einen unrealistisch rasanten Fahrstil, bei dem sogar jemand mit dem Oberkörper halb nach hinten aus dem Auto hängt, als würde ihn die Beschleunigung fast rausschleudern. Oder als Gatsby mit seinem Auto durch die Straßen New Yorks brettert und dabei jede Verkehrsregel missachtet, zeigt er dem Polizisten seine Visitenkarte bei voller Fahrt, was geradezu albern wirkt. Auch die Musik ist völlig unauthentisch. Wenn auf Gatsbys Party A little Party never killed nobody läuft und die Bässe im Hintergrund von Dialogen ballern, fragt man sich doch zwangsläufig, wo Gatsby im Jahr 1922 fette Subwoofer herhaben soll. Die Kritik an dekadenten Lebensstilen geht hier ebenfalls verloren. Vielmehr hat man den Eindruck, Hollywood würde sich mit seinem luxuriösen Prunk mal wieder selbst feiern. Entsprechend kontrovers wurde der Film von Kritikern aufgenommen. Bei Rotten Tomatoes hat er eine ernüchternde Bewertung von 48%. Ich persönlich finde ihn unter Vorbehalten sehenswert, besonders für diejenigen, die Wert auf eine gute Buchadaption legen.
Das Ende ist einerseits tragisch, andererseits aber unvermeidbar, um die Moral zu verkörpern, die vermittelt werden soll. Da ich den Film gesehen habe, als ich das Buch noch nicht ganz durchgelesen hatte, war ich vom Ende entsprechend wenig überrascht. Es ist ein sehr passendes Ende, geradezu eine logische Konsequenz und aus dieser Perspektive heraus sehr klug gewählt. Trotz seiner Tragik ist der Abschluss also rund und bietet keine Grundlage für negative Kritik. Auch wenn mir das Buch sehr gut gefallen hat, wird es sicherlich das einzige sein, das ich von Fitzgerald lesen werde.
Fazit
Insgesamt ist „Der große Gatsby“ ein Literaturklassiker, der auch heute noch sehr lesenswert ist. Der poetische Schreibstil mit seiner vielschichtigen Symbolik macht die Geschichte literarisch wertvoll und bietet viel Gesellschaftskritik, die auch heute noch Aktualität besitzt. Der Roman aus dem Jahr 1925 fängt die Dekadenz sowie gleichzeitig die Oberflächlichkeit und Ziellosigkeit der 1920er-Jahre meisterhaft ein, während er den amerikanischen Traum hinterfragt und die Bedeutung von Reichtum und Liebe für persönliches Glück auslotet. Der Einstieg mag etwas schwer fallen, insbesondere, wenn man den Plot vorher nicht kennt. Die Figuren dienen eher der Erfüllung kritischer Moralvorstellungen als der Identifikation. Trotz kleinerer Schwächen würde ich die Lektüre jedem empfehlen, der einen leicht zugänglichen Klassiker lesen möchte, ohne ein zu umfangreiches Buch mit gehobener Sprache vor sich zu haben. Deswegen erhält Francis Scott Fitzgeralds Werk von mir vier von fünf Federn.