Flavia de Luce – Tote Vögel singen nicht

Flavia de Luce – Tote Vögel singen nicht
4. November 2024 0 Von lara

Mein Abschied von Bishop’s Lacey

Meine November-Rezension 2024


Mit „Flavia de Luce – Tote Vögel singen nicht“ endet vorerst meine Lesezeit in Bishop’s Lacey. Der sechste Band der Detektivroman-Reihe erschien 2014 und ist der letzte, den ich besitze. Vorerst möchte ich mir die Folgebände nicht zulegen. Obwohl ich die Reihe wirklich sehr liebe, stört es mich, dass sie bisher nicht abgeschlossen ist. Der elfte Band erscheint am 27. November, und es soll nicht der letzte sein. Auch wenn die Rezensionen über den siebten Band sehr positiv sind und der Klappentext spannend klingt, fehlt mir doch die Motivation, diese schier unendliche Reihe weiterzuverfolgen. Umso mehr habe ich aber meinen letzten Besuch bei Familie de Luce auf Buckshaw genossen.

Inhalt

Nachdem sie mehr als zehn Jahre verschollen war, wurde die Leiche von Harriet de Luce, Flavias Mutter, in einer Gletscherspalte im Himalaya gefunden. Mit einem großen Militäraufgebot wird die Verstorbene zurück in ihre Heimat Bishop’s Lacey überführt, an dessen Bahnhof nicht nur das halbe Dorf Spalier steht, sondern auch Winston Churchill. Auch die fast zwölfjährige Flavia de Luce wartet gebannt auf die Mutter, die sie nie kennenlernen durfte. Da nähert ihr sich ein Mann, der ihr eine kryptische Nachricht ins Ohr raunt. Wenige Minuten später ist er tot, überfahren vom abfahrenden Zug. Während Harriet vor ihrer Beerdigung noch auf Buckshaw aufgebahrt wird, kommen entfernte Verwandte aus Cornwall zu Besuch. Lena und ihrer Tochter Undine de Luce gehen Flavia in ihrem Labor gehörig auf die Nerven. So findet sie kaum Zeit ihre tote Mutter zu betrauern oder den mysteriösen Mord am Bahnhof aufzuklären. Und da wäre auch noch das unentwickelte Filmband, das Flavia auf dem Speicher des Anwesens gefunden hat.

Cover

Iacopo Bruno hat die Flavia-Reihe nur bis einschließlich Band 7 illustriert. Ab Band 8 gibt es die Reihe nur mit den neuen Covern. Da alle meine Ausgaben das alte Cover hatten, war auch der Wechsel zu den neuen Covern eine Grenze, die ich vorerst nicht überschreiten wollte, denn ich persönlich finde Brunos Cover charmanter. Dieses hier zeigt einen beigefarbenen Hintergrund mit aneinander gereihten Schäfchenwolken. Davor fliegt ein Propellerflugzeug so dicht von rechts nach links, dass nur der Mittelteil auf das Cover passt. In dem gelben Doppeldecker sitzt Flavia alleine, während sie mit der linken Hand das Steuer und mit der rechten eine Fliegermütze hält. Die altmodische Lederkappe auf ihrem Kopf, ihre flatternden Flechtzöpfe und die schwarze Katze auf dem oberen Träger sind kleine, süße Details. In diesem Band spielt die Blithe Spirit, das alte Propellerflugzeug von Flavias Mutter, eine entscheidende Rolle.Ich persönlich hätte das Cover aber noch etwas schöner gefunden, wenn der Himmel blau gewesen wäre.

Kritik

„‚Eure Mutter wurde gefunden.‘“, ist der erste Satz des Prologs und gleichzeitig auch der letzte Satz des Vorgängers. Denn mit diesem fiesen Cliffhanger endete „Schlussakkord für einen Mord“. Mit diesem Satz erklärt Haviland de Luce seinen drei Töchtern, dass ihre Mutter nicht mehr lebt. Ihr Tod durchzieht von der Überführung am Bahnhof über ihre Aufbahrung im Anwesen bis hin zu ihrer Beerdigung auf dem Dorffriedhof die gesamte Geschichte. Ich war anfangs überrascht, dass ihr Tod für Flavia so eine Überraschung darstellte: Ich hatte angenommen, dass Harriets Tod längst Gewissheit ist, auch ohne dass eine Leiche gefunden wurde. Flavias Trauer um ihre Mutter steht deutlich im Vordergrund und macht diesen Band wahrscheinlich zu Flavias persönlichster Geschichte. Auf den über 300 Seiten und 30 Kapiteln plus Prolog und Epilog spielt der Mordfall am Bahnhof eine deutlich kleinere Rolle.

Wenn auch nicht Teil der Familie, gehört die Köchin Margaret Mullet dennoch zum Inventar von Buckshaw. Flavia bezeichnet sie gerne als „Mrs. M.“. Ihr genaues Alter ist nicht bekannt, aber da sie eine erwachsene Tochter namens Agnes hat, die nicht mehr zuhause wohnt, ist sie vermutlich um die 50 Jahre. Mit ihrem Mann Alf lebt sie in einem kleinen Haus in Bishop’s Lacey weswegen sie Flavia als Quelle für Dorftratsch dient. Mrs. Mullet ist keine besonders gute Köchin oder Bäckerin, weshalb Flavia ihr Essen gerne auch mal verschmäht. Da die Reihe zur Zeit der Nachkriegsrationierung spielt, sind die Lebensmittel eingeschränkt. Aus diesem Grund vergreift sich Mrs. Mullet gerne mal an Vorräten oder nimmt Reste mit nach Hause. Sie mag eine einfache Person mit einfachen Gedanken sein, hat aber ein großes Herz und dient Flavia als emotionale Stütze, auch wenn sie ein wenig in Doggers Schatten steht. Anfangs war ich Mrs. Mullet gegenüber skeptisch, aber inzwischen weiß ich, dass sie eine loyale Hausangestellte ist, die die de Luces und ihre Eigenheiten toleriert.

Bradleys Schreibstil weiß wie immer mit Raffinesse und Verspieltheit zu überzeugen. Die literarische und detaillierte Sprache habe ich tief in mein Herz geschlossen. Da der Mordfall hier eher im Hintergrund steht, ist die Handlung weniger actionreich. Dennoch kommen spannende Passagen auf, z.B. als Flavia Harriets Schlafgemach aufsuchen will, dafür aber an ihrem schlafenden Vater vorbei schleichen muss. Vielleicht ist das hier nicht der fesselndste oder temporeichste Band der Reihe, aber sicherlich der emotionalste. Die Atmosphäre ist hier besonders düster und schaurig, auch wenn es humorvolle Lichtblicke gibt. Flavia macht im sechsten Band eine besonders schwere Zeit durch, da sind ein paar liebe Worte oder ein charmanter Witz geradezu Balsam für die Seele.

Der Tod ist ein Leitmotiv, das sich wie ein roter Faden durch diese Geschichte zieht. Egal, ob der mysteriöse Mord am Bahnhof, Flavias Faszination für Leichen oder die Trauer um Harriet: der Tod gehört zum Leben dazu. Jeder der de Luces geht mit der Trauer anders um, aber alle ziehen sich zurück und verbringen viel Zeit alleine. In ihrem Schmerz um den Verlust sind sie aber dennoch geeint. Besonders schlimm ist es für Flavia und ihren Vater. In ihrer Verzweiflung versucht Flavia sogar, den Sarg heimlich zu öffnen, um ihre Mutter mithilfe von Thiamin und Adenosintriphosphat (ATP) wiederzubeleben. Dieser hoffnungslose Versuch sowie die Tränen ihres Vaters haben mich zutiefst berührt. Da außerdem noch nicht sicher ist, ob die Familie auf Buckshaw wohnen bleiben kann, da das Geld immer knapper wird, haben sie noch zusätzliche Sorgen.

Leider sind mir auch in diesem Band wieder naturwissenschaftliche Ungenauigkeiten aufgefallen. So nennt Flavia bspw. den lateinischen Artnamen eines Fisches, wobei der Name nicht kursiv geschrieben ist. Das ist zwar nur ein kleiner Fehler, und bei anderen Artnamen wie Tyrannosaurus rex (S. 185) oder Tetrao urogallus (S. 189) macht sie es auch richtig, aber leider eben nicht konsequent. Gravierender ist jedoch der Fehler, dass Flavia behauptet, Organismen können keine Vitamine selbst produzieren (S. 125). Das ist aber nicht bei allen Vitaminen der Fall. Unter dem Einfluss von Sonnenlicht kann der Körper auch selbständig Vitamin D produzieren. Auch die Vitamine K, B3 oder B7 können im menschlichen Körper in geringen Mengen hergestellt werden. Nennt mich kleinkariert, aber bei einer Protagonistin, die Chemie liebt, hätte ich mir doch gewünscht, dass weniger fachliche Fehler vorkommen.

Vielleicht etwas untergeordneter als sonst, aber dennoch eine wichtige Frage, ist die nach dem Mörder des Mannes am Bahnhof. Wobei Flavia auch erst in der zweiten Buchhälfte erfährt, wie der Mann überhaupt heißt. Da die Trauerbewältigung viel mehr Thema ist, habe ich mir auch lange keine Gedanken zum potenziellen Mörder gemacht. Eigentlich kamen nur drei Personen infrage. Entweder war es der Pilot Tristram Tallis, der plötzlich auf Buckshaw mit Harriets altem Flugzeug auftaucht und von dem Flavia glaubt, dass sie ihn schon einmal irgendwo gesehen hat. Oder es war Flavias Tante Lena de Luce, die am Tag des Mordes nach Bishop’s Lacey kam und eine kaltblütige Aura hat. Vielleicht war es aber auch der Rechtsmediziner Sir Peregrine Darwin, der für Harriets Obduktion angereist ist und das letzte Zimmer im Dreizehn Erpel gemietet hat. Könnte Harriets Tod mit dem Mann am Bahnhof in Verbindung stehen? Wer allerdings mit der Erwartungshaltung an dieses Buch heran geht, es ginge hier wie immer vordergründig um die Aufklärung des Mordfalls, könnte am Ende doch etwas enttäuscht werden.

Die Auflösung konnte mich ausnahmsweise mal nicht wirklich überraschen, aber das ist auch in Ordnung. Da der Plot hier einen anderen Fokus setzt, kann man nicht den komplexesten Fall der Reihe erwarten. Dennoch war das Finale blutig und schockierend. Im Epilog wird bereits angedeutet, dass Flavias nächster Fall nicht in Bishop’s Lacey spielen wird. Da auch über Harriets Vergangenheit viel offenbart wurde, tut es mir ein wenig weh, die Reihe zu pausieren, denn es gibt noch so viele offene Fragen. Ich hoffe einfach, dass Flavia de Luce von Alan Bradley noch abgeschlossen wird, bestenfalls mit Band 12. Der Autor ist mit seinen 86 Jahren leider nicht mehr der Jüngste, und ich hoffe wirklich auf einen genialen Schlussstrich unter der Romanreihe. Sollte die Reihe tatsächlich mit Band 12 enden, hätte ich jetzt die erste Hälfte hinter mir und würde mir dann in ein paar Jahren die zweite Hälfte vornehmen.

Fazit

„Flavia de Luce – Tote Vögel singen nicht“ ist wohl Flavias persönlichster Fall. Besonders die emotionale Tiefe, die Figurendynamik sowie die schaurige Atmosphäre können hier punkten. Alan Bradleys Schreibstil brilliert wie immer mit literarischer Raffinesse und charmanten Details. Der Mordfall tritt hierbei allerdings in den Hintergrund und fungiert eher als begleitender Handlungsstrang, was für mich eine erfrischende Abwechslung war. Ein kleiner Wermutstropfen sind die naturwissenschaftlichen Ungenauigkeiten, die leider immer wieder in der Detektivroman-Reihe negativ auffallen. Insgesamt ist Band 6 aus dem Jahr 2014 dennoch gelungen und berührend. Deswegen erhält er von mir vier von fünf Federn. Die Familiengeschichte der de Luces mit ihren Geheimnissen wird wunderbar vertieft, sodass es mir wirklich schwerfällt, Bishop’s Lacey vorerst den Rücken zu kehren. Flavia de Luce hat sich inzwischen zu einer meiner liebsten Buchreihen aller Zeiten entwickelt und ich kann nur hoffen, dass sie abgeschlossen wird. Denn solange das nicht der Fall ist, werde ich sie pausieren.