Flavia de Luce – Schlussakkord für einen Mord

Ach du heilige Orgelpfeife!
Meine zweite Oktober-Rezension 2024
„Flavia de Luce – Schlussakkord für einen Mord“ ist der fünfte Band der Detektivroman-Reihe von Alan Bradley. Und es ist der vorletzte Band, den ich lesen werde. Ich liebe die neunmalkluge Flavia, die sich mit ihrer vorlauten Art nicht von Erwachsenen einschüchtern lässt und ihren eigenen Kopf hat. Aber ich besitze nur die ersten sechs Bände, und solange die Reihe nicht abgeschlossen ist, möchte ich sie vorerst nicht weiterverfolgen. Denn ein wenig ermüdet sich dieses durchaus gute Konzept mit der Zeit. In Bishop’s Lacey wird jemand ermordet, Flavia erschleicht sich unter Vorwänden Zutritt zum Tatort und entdeckt dort Details, die der Polizei entgangen sind. Kurz bevor sie den Fall löst, gerät sie in die Hände des Mörders, den sie mit einer List austrickst und für dessen Verhaftung sie sorgt. Trotzdem ist auch Band 5 aus dem Jahr 2013 sehr lesenswert.
Inhalt
Es ist kurz vor Ostern 1951, als in der Kirchengruft von St. Tankred die Leiche des seit Monaten verschollenen Organisten Crispin Collicutt bei einer Exhumierung gefunden wird. Offenbar wurde der freundliche Mann ausgerechnet in der Kirche ermordet. Kein Wunder, dass an diesem entweihten Ort die Heiligenstatue des St. Tankred plötzlich Blut weint. Oder ist das doch kein Zeichen Gottes? Die elfjährige Flavia de Luce macht sich auf die Suche nach dem Mörder, nicht zuletzt, weil ihre älteste Schwester Ophelia die Nachfolge des Organisten antreten soll und Flavia um ihr Leben bangt.
Cover
Auch hier gibt es wieder ein altes Cover von Iacopo Bruno sowie ein neues von einem anderen Illustratoren. Ich persönlich bevorzuge aber die alten Cover, auch wenn Flavia auf ihnen stets ein Abziehbild von Wednesday Addams aussieht und nur wenige Gemeinsamkeiten mit ihrem im Buch beschriebenen Erscheinungsbild hat. Das Cover ist in einen hellblauen Grundton getaucht. Man erkennt im Hintergrund acht Orgelpfeifen, die im Mittelteil in die Klaviatur übergeht. Unter den Tasten ist Holzstuck zu sehen, der in der Mitte einen Totenkopf mit zwei überkreuzten Knochen zeigt. Über die Klaviertasten läuft eine Miniatur-Version von Flavia. Ihre zwei Flechtzöpfe wehen ihr hinterher, während sie von rechts nach links läuft, wobei sie mit dem rechten Fuß eine Taste betätigt (übrigens das f). Ihr Blick ist auf den strahlenden, riesigen Diamanten gerichtet, den sie in ihrer rechten Hand hält. Von oben wird sie von einem Lichtstrahl beleuchtet. Ich mag den Zeichenstil von Bruno sehr, allerdings finde ich, dass ein Detail auf dem Cover ein Spoiler ist, der nicht unbedingt hätte abgebildet werden müssen.
Kritik
„Blut tropfte vom Stumpf des abgeschlagenen Kopfes, regnete in dicken Tropfen herab und sammelte sich in einer rubinroten Pfütze auf den schwarz-weißen Fliesen.“, ist der brutale erste Satz des ersten Kapitels. Tatsächlich befindet sich Flavia zu dieser Zeit in der Kirche St. Tankred und betrachtet die blutigen Szenen im Mosaik des Kirchenfensters. Bradley verbindet schon mit dem Einstieg die beiden Leitmotive, die sich durch das gesamte Buch ziehen: Kirche und Blut. Mit fast 350 Seiten und 30 Kapiteln hat „Schlussakkord für einen Mord“ einen für Flavia durchschnittlichen Umfang.
Eine der wohl wichtigsten Bezugspersonen für Flavia ist der als Gärtner Angestellte Arthur Dogger, genannt Dogger. Er ist ein älterer Herr mit weißem Haar, der als groß und dünn beschrieben wird. Er war zusammen mit Colonel de Luce im Zweiten Weltkrieg in japanischer Kriegsgefangenschaft. Die Japaner waren bekannt dafür, mit ihren Gefangenen sehr grausam umgegangen zu sein. Unterernährung, Krankheiten und Misshandlungen gehörten in den Gefangenenlagern zur Tagesordnung. Mehr als 10% der inhaftierten Briten, Amerikaner und Niederländer starben. Auch an Dogger ist diese schwere Zeit nicht spurlos vorbeigegangen. Er leidet unter posttraumatischer Belastungsstörung, auch wenn das im Buch nie explizit so gesagt wird. Unregelmäßig erlebt er Panikattacken, die durch Flashbacks ausgelöst werden. Deswegen halten ihn manche Leute für verrückt und unzurechnungsfähig, aber Flavia versteht, dass ihn in manchen Momenten die Geister seiner Vergangenheit einholen. Dogger ist in gewisser Hinsicht Flavias bester Freund. Sie geben aufeinander Acht und Flavia schätzt Doggers Fachwissen über Medizin und Chemie. Woher Dogger dieses Wissen hat, wird in der Reihe nicht erwähnt, aber ich vermute, dass Dogger vor dem Krieg Medizin studiert hat und vielleicht sogar Arzt war. Seine ruhige, stoische und weise Art macht Dogger zu einer meiner absoluten Lieblingsfiguren in dieser Reihe.
Bradleys Schreibstil ist wie gewohnt extrem gut. Ich liebe diese unaufgeregte, elegante und doch klare Sprache, mit der Bishop’s Lacey zum Leben erweckt wird. Sogar die Nebenfiguren haben alle einen eigenen Charakter und passen wunderbar in dieses abgelegene Kuhdorf Englands, das größtenteils gottesfürchtig ist. Auch für Flavia spielt Religion eine große Rolle, denn sie geht jeden Sonntag mit ihrer Familie in die Kirche und ihr Vater ist mit dem Vikar befreundet. Atmosphärisch passt die in die Jahre gekommene, leicht verfallene Kirche mit dem angrenzenden Friedhof perfekt zur für Flavia de Luce typische Düsternis. Die Kirchengruft mitsamt ihrer Geheimnisse verleiht der Geschichte eine mysteriöse Stimmung. Wenn Flavia selbst in der Kirche unterwegs ist, verstärkt ihre kindliche Neugier den Gegensatz zur Schwere und Alter des Ortes. Stilistisch gibt es hier wie immer nichts zu Meckern!
Allerdings gibt es doch ein paar fachliche Fehler, die mich etwas enttäuscht haben. So sagt Flavia auf Seite 225 zum Beispiel: „Ein paar tiefe Atemzüge, und das gute alte »O« regeneriert jede Zelle im Körper.“ Atmosphärisch kommt Sauerstoff allerdings als O2 vor und nicht als einzelnes Atom, denn das wäre zu reaktionsfreudig. Man atmet also atmosphärischen Sauerstoff (O2) und nicht molekularen Sauerstoff (O). Außerdem spielt Sauerstoff zwar eine wichtige Rolle bei der Zellatmung, regeneriert aber nicht die Zelle. Dafür sind DNA-Reparaturmechanismen und die Zellteilung wichtig. Das mag zwar bloß ein kleiner Fehler sein, aber gerade bei Flavias Leidenschaft für Chemie ist es doch unglaubwürdig, dass sie sich bei solch einem Basiswissen vertun würde. Auch folgende Aussage hat mich etwas schockiert: „Arterielles Blut hat mehr Sauerstoff und weniger Stickstoff, wogegen es bei venösem Blut umgekehrt ist.“ (S. 259). Das ist insofern falsch, als dass das meiste Gas, das in Venen gebunden wird, Kohlendioxid (CO2) ist. Es wird über die Lunge ausgeatmet und dort mit O2 ausgetauscht. Stickstoff (N2) macht 78% unserer Atemluft aus. Das heißt, es wird zwar beim Atmen in die Lunge aufgenommen, dort aber kaum verstoffwechselt, sondern wieder ausgeatmet. Der Stickstoffgehalt bei arteriellem und venösem Blut ist also, anders als Flavia behauptet, nahezu gleich. Möglicherweise handelt es sich hierbei um einen Übersetzungsfehler. Unabhängig davon finde ich es aber sehr schade, dass man den naturwissenschaftlichen Aussagen in dieser Reihe nicht blind vertrauen kann. Denn auch in Band 2 und 3 sind mir schon ähnliche Fehler aufgefallen.
Diesen Mordfall empfand ich lange als sehr verworren. Warum lag der tote Mr. Collicutt mit einer Gasmaske über dem Gesicht im Grab eines Heiligen? Wie ist er ermordet worden? Und wer könnte überhaupt ein Motiv dafür haben? Diese Reihe lebt einfach von den gut konstruierten Kriminalfällen, die immer neue Fragen aufwerfen. Bei meiner Suche nach dem Mörder habe ich mich, wie üblich, schwer getan. War es möglicherweise Adam Sowerby, ein alter Freund von Flavias Vater, der behauptet, Pflanzenärchaologe zu sein? Aber Flavia glaubt, dahinter stecke noch mehr und auch die verrückte Meg hat seinen Namen im Zusammenhang mit „Blut“ gerufen. Oder war es der Küster Mr. Haskins, der zumindest die Werkzeuge hat, um eine Gruft zu öffnen und eine Leiche darin zu verstecken? Vielleicht war es aber auch der Kirchenhistoriker Marmaduke Parr, der ausdrücklich gegen die Exhumierung des Heiligen St. Tankred war? Eventuell hatte er Angst, dass die Leiche des Organisten entdeckt wird, die er darin versteckt hatte? Da der Stein, der die Gruft bedeckt, extrem schwer ist, könnte es auch sein, dass ein Komplize notwendig war, um sie zu öffnen. Es gibt also wieder viele Verdächtige, über die man sich beim Lesen den Kopf zerbrechen kann.
Flavias erster Fall ist in der Handlungszeit fast ein Jahr her, weshalb sich ihr Leben verändert hat. So hört Flavia zu Beginn des Buches Gerüchte darüber, dass ihre Schwester Ophelia heiratet und dass Buckshaw verkauft werden soll. Bei Flavias Erkundungen erfährt sie außerdem mehr über ihre verstorbene Mutter und dadurch auch über sich selbst. Das Ende bietet wie immer ein Kräftemessen zwischen Flavia und dem Mörder. Bei mir ist der Groschen, wer der Mörder ist, erst in der zweiten Hälfte gefallen. Die Auflösung bietet dennoch spannende Überraschungen, die ich nicht habe kommen sehen. Blättert auf gar keinen Fall auf die letzte Seite, denn dort erwartet euch ein Spoiler, der gleichzeitig zum Cliffhanger wird. Es lohnt sich also, Flavia de Luce nicht nach dem fünften Band abzubrechen!
Fazit
„Flavia de Luce – Schlussakkord für einen Mord“ punktet wie immer mit einem überzeugenden Schreibstil, einzigartigen Figuren und einem fesselnden Mordfall. Besonders Dogger, der mit seiner PTBS zu kämpfen hat in einer Zeit, in der Psychotherapie gesellschaftlich verpönt ist, hat mein Leseherz erobert. Es ist die Mischung aus subtilem Humor, packenden Kriminalfällen, einer ungewöhnlichen Protagonistin und der düsteren Atmosphäre des englischen Dörfchens um 1950, das die Reihe so großartig macht. Auch Flavias Liebe zur Chemie ist eine Quintessenz der Detektivromane, weshalb es besonders schade ist, dass sich hier wissenschaftliche Fehler eingeschlichen haben. Der fünfte Band aus dem Jahr 2013 hat wieder viel Spaß gemacht, allerdings finde ich ihn nicht ganz so gut wie den direkten Vorgänger. Deswegen bekommt dieses Buch von Alan Bradley von mir vier von fünf Federn. Gerade der Cliffhanger animiert mich förmlich dazu, bald mit dem sechsten Band „Tote Vögel singen nicht“ anzufangen.
