Flavia de Luce – Vorhang auf für eine Leiche
Ein filmreifer Mord
Meine Oktober-Rezension 2024
Aktuell lese ich viele verschiedene Bücher durcheinander. Meine Rezension zur Lesechallenge im September habe ich zum Beispiel noch vor der für den August veröffentlicht. Deswegen bin ich froh, zumindest eine Konstante in meinem Leseleben zu haben: Flavia de Luce. „Vorhang auf für eine Leiche“ ist der 2012 auf Deutsch erschienene vierte Band der Detektivroman-Reihe. Ich habe die naseweise Flavia mit ihrer Leidenschaft für Chemie, Tod und Gifte direkt ins Herz geschlossen. Auch dieses Mal gibt es wieder einen spannenden Mordfall auf ihrem Familienanwesen, den Flavia noch vor der Polizei lösen will. Macht euch gefasst auf einen filmreifen Mord!
Inhalt
Im Dezember 1950 schneit es ordentlich im englischen Dorf Bishop’s Lacey. Weihnachten steht vor der Tür und das Herrenhaus Buckshaw, in dem die elfjährige Flavia de Luce mit ihrem Vater, ihren beiden älteren Schwestern Ophelia und Daphne sowie den Hausangestellten Mrs. Mullet und dem Gärtner Dogger lebt, ist fast eingeschneit. Doch Ruhe und Besinnlichkeit gibt es vorerst nicht, da eine Filmcrew auf Buckshaw Einzug hält, die dort „Der Schrei des Raben“ drehen will. Flavias Vater Haviland erhofft sich davon, die finanzielle Lage der Familie etwas zu verbessern. Auch Flavia ist ganz begeistert, Filmstars wie den Schauspieler Desmond Duncan oder die weltberühmte Phyllis Wyvern auf ihrem Anwesen zu Gast zu haben. Ihre Schwester Ophelia versucht sogar, in dem Film eine Komparsenrolle zu ergattern. Doch dann wird Phyllis Wyvern mit einer Filmrolle erdrosselt aufgefunden. Flavia macht sich umgehend auf die Suche nach dem Mörder, denn sie weiß, dass er als Teil der Filmcrew unter ihrem Dach lebt.
Cover
Auch für diesen Band gibt es wieder zwei verschiedene Cover, wobei ich wieder eine Ausgabe mit altem Cover besitze. Vor dem hellroten Hintergrund steht die illustrierte Flavia de Luce, die mit ihren zwei Flechtzöpfen und ihrem schwarzen Kleid mit Knopfleiste aussieht wie Wednesday Addams, auf einem Filmstreifen, der eine schwarze Katze abbildet. In ihrer rechten Hand hält sie eine Filmklappe, wobei zwei der drei Kameras im Vordergrund auf sie gerichtet sind. Schnell wird klar: Hier geht es ums Filme drehen. Am oberen Rand sind zudem weiße Schneeflocken erkennbar. Außerdem sind die Schriftzüge des Romans leicht schneebedeckt, was den Handlungszeitraum Dezember noch einmal unterstreicht.
Das neue Cover zeigt in der Ferne ein weißes Herrenhaus auf einem verschneiten Hügel mit drei Nadelbäumen. Hinter dem Haus ist eine riesige Filmrolle abgebildet, wobei sich ein Filmstreifen nach oben in den rosafarbenen Himmel reckt. Hier schneit es nicht nur Schneeflocken, sondern auch drei weiße Totenköpfe. Ich finde, dass beide Cover gut wiedergeben, dass das Buch im Winter spielt und es um Dreharbeiten geht. Ich bin aber ein Fan des Illustrators Iacopo Bruno, deswegen bleiben die alten Cover meine Favoriten.
Kritik
„Nasskalte Nebelranken erhoben sich vom Eis wie gepeinigte Seelen, die ihre leibliche Hülle verließen.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels. Da Flavia wie gewohnt im Präteritum aus der Ich-Perspektive berichtet, merkt man ihr hier bereits ihre Leidenschaft fürs Morbide an. In der ersten Szene träumt Flavia davon, die eiskalte Bildergalerie auf Buckshaw geflutet zu haben, um darin Schlittschuh laufen zu können. Gerade in dem Moment, in dem man sich denken könnte, dass Flavia nun zu weit gegangen ist, wacht sie auf. Flavias Pirouetten auf dem Eis waren bloß ein Traum, auch wenn es bei ihr tatsächlich Winter ist. Mit etwas mehr als 300 Seiten und 22 Kapiteln sowie einem Epilog, der als „Nachspiel“ bezeichnet wird, ist der vierte Band von Flavia de Luce bisher ihr kürzestes Abenteuer. Der Geschichte geht ein Auszug aus Alfred Tennysons Ballade „Die Dame von Shalott“ voran, die hier wahrscheinlich auf das Mordopfer gemünzt ist.
Neben Flavia gehört auch ihre zweitälteste Schwester Daphne, kurz Daffy, zum Inventar von Buckshaw. Sie hat sich mit ihrer ältesten Schwester Ophelia verbrüdert, oder vielmehr verschwestert, um Flavia zu ärgern. Während Flavia also die Ausgeschlossene ist, verbringen Daphne und Ophelia viel Zeit zusammen. Sie ist 13 Jahre alt und ihr wachsen, wie Flavia frech erwähnt, gerade erst Brüste. Sie hat mausbraunes Haar und dieselben blauen Augen wie ihre beiden Schwestern auch, doch Flavia beschreibt Daphne neben ihrer hübschen Schwester Feely eher als Mauerblümchen. Während Ophelias Leidenschaft das Musizieren ist, ist es bei Daphne die Literatur. Sie hat meistens ein Buch in der Hand, hält sich oft in der Bibliothek auf und wird nur ungern beim Lesen gestört. Auch wenn sie Flavia nicht besonders mag, ist doch Ophelia die treibende Kraft hinter den Schikanen. Daphne spielt einfach nur mit. Deswegen traut sich Flavia auch manchmal, wie bspw. in Band 3, Daphne um Rat zu fragen. Denn von Daphnes Wissen über Vokabular und Kultur kann Flavia noch so manches lernen. Das Verhältnis zwischen Flavia und Daffy mag also schlecht sein, aber nicht so schlecht wie das zu Ophelia. In diesem Band spielt Daphne sogar eine etwas größere Rolle und Flavia beginnt, sie mit anderen Augen zu sehen.
Bradleys Schreibstil ist lebendig, elegant und detailreich. Die Sprache ist an Flavias Persönlichkeit angepasst, die einerseits kindlich verspielt, andererseits auch raffiniert ist. Die ungewöhnlich komplexen oder reifen Ausdrücke, die Flavia verwendet, spiegeln ihren Bildungsstand sowie ihr außergewöhnliches Interesse an Chemie wider. Das Tempo ist perfekt gewählt, sodass sich „Vorhang auf für eine Leiche“ schnell zu einem Pageturner entwickelt. Humorvolle Szenen, wie Flavias Versuch, den Weihnachtsmann mit selbstgemachten Leim zu fangen, um ihren Schwestern zu beweisen, dass es ihn doch gibt, wechseln sich mit Nachforschungen zu einem spannenden Mordfall ab. Das verleiht dieser Reihe ihren ganz besonderen Charme. Bradley gelingt es wunderbar, diese verschiedenen Aspekte miteinander zu verweben, um so eine liebenswürdige Geschichte zu kreieren. Auch die weihnachtliche Atmosphäre in dem zugeschneiten, zugigen und in die Jahre gekommenen Anwesen, über dem das düstere Geheimnis eines Mordes schwebt, ist sehr einnehmend.
Der Mordfall lädt wie immer zum Miträtseln ein. Wer hatte ein Motiv? Wer hatte die Gelegenheit, den Mord zu begehen? War es vielleicht der Regisseur Val Lampman, den Flavia beim Streit mit Phyllis beobachtet hat? Oder die Regieassistentin Marion Trodd, die Flavia ein wenig unheimlich findet? Oder war es Phyllis‘ Assistentin Bun Keats, die von Phyllis herablassend herumkommandiert wurde? Vielleicht war es aber auch der Elektriker Gil Crawford, dem Phyllis vor versammeltem Publikum eine schallende Ohrfeige verpasst hat. Schnell wird klar, dass der gefeierte Filmstar bei ihrer Crew nicht gerade beliebt war und dass es mehrere Leute gab, die sie gerne losgeworden wären.
Einziger kleiner Kritikpunkt ist für mich, dass die Leiche erst ab etwa der Hälfte des Buches gefunden wird. Die Suche nach dem Mörder geht also erst dann richtig los. Die erste Hälfte besteht ansonsten aus der Exposition der vielköpfigen Filmcrew und den Beziehungen untereinander, sodass die eigentliche Einleitung bereits die Hälfte des Romans einnimmt. Entsprechend zügig wird dann auch der Mordfall abgehandelt, ähnlich wie bereits im zweiten Band „Mord ist kein Kinderspiel“. Vielleicht hätte dem Buch etwas mehr Umfang sogar ganz gut getan. Das ist allerdings Meckern auf hohem Niveau.
Das Ende bietet einen packenden Showdown, der mich das Buch nicht mehr weglegen lassen hat. Mit meiner Vermutung, wer der Mörder ist, hatte ich zumindest teilweise recht. Eine Sache hatte ich dabei übersehen. Für mich war dies der beste Fall seit „Mord im Gurkenbeet“.
Fazit
Es ist schwer in Worte zu fassen, wie sehr mir die Flavia de Luce-Reihe von Alan Bradley bereits ans Herz gewachsen ist. Der großartige Schreibstil und die einzigartige Protagonistin, die auf ganz charmante Weise Dorfmorde im Jahr 1950 löst, machen die Detektivroman-Reihe zu einem absoluten Geheimtipp. Es sind nicht nur die charakterstarken Nebenfiguren, sondern auch der clevere Humor und die Referenzen auf historische Persönlichkeiten und Chemikalien, die ihr so einen Mehrwert geben. Auch „Vorhang auf für eine Leiche“ ist da keine Ausnahme. Die Mischung aus verschneitem Adelshaus als Setting mit der angestaubten Nostalgie alter Schwarzweiß-Filme macht den vierten Band genauso genial wie den ersten. Zwar liegt zwischen dem Auffinden der Leiche und der Auflösung nur wenig Erzählzeit. Abgesehen davon war dieses Buch aber richtiges Highlight für mich, wie ich es nur selten empfinde. Deswegen erhält Band 4 von Flavia de Luce von mir alle fünf Federn. Ich kann den nächsten Band „Schlussakkord für einen Mord“ kaum erwarten!