Mein bester letzter Sommer

Mein bester letzter Sommer
11. Juli 2024 0 Von lara

Tessa und Oskar

Meine zweite Juli-Rezension 2024


Für die Lesechallenge im Juni sollte ich ein Buch mit meiner Lieblings-Trope lesen. Das ist mir relativ schwer gefallen, da ich erstens nicht wirklich eine Lieblings-Trope habe, und ich mich zweitens bei Büchern auch gerne überraschen lasse, worauf der Plot hinausläuft, während Tropes wie Enemies to Lovers, Friends to Lovers oder Fake Dating schon sehr deutlich verraten, worauf man sich als Leser einlässt. Aber etwas, was ich sehr liebe, sind Geschichten, die sommerliche Urlaubsgefühle vermitteln, welche ich auch ausschließlich im Sommer lese. Dies gepaart mit ein wenig Romance hat mich unweigerlich zu „Mein bester letzter Sommer“ von Anne Freytag greifen lassen. Das 2016 erschienene Jugendbuch wurde 2017 für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie der Jugendjury nominiert. Es erzählt die Geschichte einer todkranken Teenagerin, die den letzten Sommer ihres Lebens verbringt.

Inhalt

Die 17-jährige Tessa van Kampen lebt mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester Larissa in einem Haus in München. Eigentlich könnte sie eine ganz normale Teenagerin sein, hätte sie nicht von Geburt an einen inoperablen Herzfehler. Ihr Gesundheitszustand hat sich in den vergangenen Monaten so stark verschlechtert, dass die Ärzte ihr nur noch wenige Wochen geben. Dabei hat Tessa das Gefühl, noch nicht wirklich gelebt zu haben. Sie hatte weder einen Freund noch wurde sie geküsst und hat auch sonst nie über die Stränge geschlagen. Doch dann trifft sie Oskar Salzmann und verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Er schenkt ihr den besten letzten Sommer ihres Lebens voller Gefühle und unvergesslicher Momente.

Cover

Auf weißem Grund befindet sich eine blauen Kugel im Wasserfarben-Look, in der der Titel „mein bester letzter sommer“ steht. Darauf ist das Heck eines kastenförmigen gelben Volvos mit Münchener Kennzeichen und einem D-Aufkleber zu erkennen. Wer das Buch gelesen hat, weiß dass es sich bei diesem Auto um Oskars Auto handelt. Auf dem Dach sitzen die Illustrationen von zwei Jugendlichen mit dem Rücken zum Betrachter. Das Mädchen links trägt ein weißes Tanktop und hat ihre blonden Haare zu einem Messy bun gebunden. Der Junge hat einen hellbraunen Wuschelkopf und trägt ein graues T-Shirt. Wahrscheinlich sollen sie die Protagonisten Tessa und Oskar sein. In der unteren rechten Ecke des Covers befindet sich zudem die Zeichnung von Kopfhörern, die darauf hindeuten sollen, dass Musik in diesem Jugendbuch eine wichtige Rolle spielt. Mir gefällt dieses schlichte, helle, klare Cover wirklich gut. Vor allem das Münchener Kennzeichen, da Tessa und Oskar in München wohnen, zeigt die Liebe fürs Detail.

Kritik

„Die großen Kopfhörer liegen weich auf meinen Ohren und verschlucken die Außenwelt.“, ist der erste Satz des Prologs. Tessa erzählt ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive im Präsens. In den späteren Kapiteln fungiert auch Oskar als Ich-Erzähler. Der Prolog beschreibt die Szene, in der Tessa zum ersten Mal Oskar begegnet, und zwar in der Münchener U-Bahn. Für sie ist er ein Fremder, doch sie kann während der Fahrt den Blick nicht von ihm abwenden und trauert ihm förmlich nach, als sie aussteigen muss. Die Kopfhörer im ersten Satz, die auch auf dem Cover zu sehen sind, werden als „weich“ beschrieben und vermitteln so ein Gefühl von Geborgenheit, während Tessa Musik hört. „Mein bester letzter Sommer“ wird über mehr als 350 Seiten erzählt.

Protagonistin ist die 17-jährige Tessa van Kampen, die mit ihrer Familie in München wohnt. Ihr Vater ist Anwalt und ihre Mutter Greta Hausfrau, sodass Tessa sowohl wohlbehütet als auch finanziell abgesichert aufwächst. Im weitläufigen Garten gibt es einen Pool und zu ihrem 16. Geburtstag haben sie und ihre Freundinnen einfach mal Flugtickets und Hotelaufenthalte in London spendiert bekommen. Tessa hat blonde Haare, blaue Augen und sagt von sich selbst, dass sie schon immer schlank gewesen sei, durch die Krankheit aber weitestgehend abgemagert wäre. Dennoch hat sie einen gesunden Appetit und schlägt sich gerne mal den Bauch voll. Auf andere Jungen scheint sie offensichtlich attraktiv zu wirken, sie selber findet sich aber nicht besonders hübsch. Insgesamt ist Tessa ein recht braves Mädchen, das stets gute Noten schreibt, fleißig ist und noch nie einen Freund hatte. Sie selbst beschreibt sich als Kontrollfreak und hat mit dem Kontrollverlust aufgrund ihrer Krankheit sehr zu kämpfen. Dass sie nicht mehr lange leben wird, belastet sie psychisch enorm und dieser Frust schlägt nicht selten in Wut oder Gehässigkeit um, die sie an ihrer Familie auslässt. Das Verhältnis zu ihrer Mutter und ihrer Schwester hat sich aufgrund ihrer Diagnose verschlechtert, denn Tessa ist im Streit manchmal ungerecht. Ihre Angst vor dem Tod, ihre Verzweiflung und das Gefühl von Unfairness machen Tessa aber erst zu einer menschlichen Protagonistin mit nachvollziehbaren Schwächen. Ich bin wirklich beeindruckt, wie vielseitig und nahbar Tessa geschrieben wurde.

Freytags Schreibstil ist authentisch und emotional. Es gelingt ihr, Tessas Gedanken auf eine berührende Art zu schildern, wobei sie eine moderne und einfache Sprache verwendet, die gut zur jugendlichen Protagonistin passt. Die bildhaften und leicht poetischen Elemente haben die bittersüßen Momente des Romans wunderbar eingefangen, weshalb ich ab und an ein Tränchen verdrücken musste. Bei Stellen wie: „Meine Mutter wird sich die Tränen aus den Augenwinkeln tupfen, und mein Vater wird schlucken. Aber dann werden sie essen und ihre Gläser heben. Sie werden mich vermissen, aber das Leben wird weitergehen. Ohne mich. Sie werden einen Tag nach dem anderen hinter sich bringen, und eines Tages werde ich nicht mehr so fehlen wie am Tag zuvor.“, da bleibt wohl kein Auge trocken. Das Tempo variiert und schafft damit eine gute Balance zwischen ruhigeren, emotionalen Momente und schnelllebigen Szenen, die vor Lebensfreude nur so sprühen. Die Atmosphäre ist eine Mischung aus sommerlichen Feel-Good-Vibes und bedrückender Angst vor dem näher rückendem Tod. Die Message ist ganz klar: Genieße jeden Tag deines Lebens in vollen Zügen, denn eines Tages musst du dich von dieser Welt verabschieden. Niemand weiß, wie viel Zeit ihm oder ihr noch bleibt, aber Tessa lernt, jede Sekunde auszukosten und den Moment zu leben.

„Mein bester letzter Sommer“ hat allerdings einen unübersehbar großen Schwachpunkt: seine medizinische Ungenauigkeit. Zu Beginn wird lediglich erwähnt, dass Tessa mit einem Herzfehler, bzw. „ein[em] Loch“ (S. 102) im Herzen geboren wurde. Das ist maximal ungenau, aber da ich drei Jahre lang in der Kardiochirurgie gearbeitet habe, gehe ich davon aus, dass sie mit einem Ventrikelseptumdefekt (VSD) zur Welt kam, dem häufigsten angeborenen Herzfehler. Dabei hat die Scheidewand zwischen der linken und rechten Herzkammer ein Loch, sodass sich sauerstoffreiches und -armes Blut miteinander vermischen. Später erzählt sie, ihr würde außerdem „die Lungenschlagader“ (Lungenarterie, Arteria pulmonalis) fehlen. Auch das kann medizinisch betrachtet so nicht stimmen, denn das wäre nicht mit dem Leben vereinbar. Tessa wäre bereits kurz nach ihrer Geburt gestorben. Was deutlich wahrscheinlicher ist, ist dass Tessa eine Fehlbildung hat, die als „Transposition der großen Arterien“ (TGA) bezeichnet wird. Auch dieses Krankheitsbild gehört mit 2-3% zu den häufig angeborenen Herzfehlern. Dabei ist die Lungenarterie mit der linken Kammer anstatt der rechten verbunden. Stattdessen geht die Aorta von der rechten Kammer ab. Das führt dazu, dass das sauerstoffarme Blut ohne Anreicherung wieder in den Körperkreislauf geschleust wird, während der Lungenkreislauf das sauerstoffreiche Blut die ganze Zeit nur im Kreis zwischen Lunge und Herz pumpt. Dass Tessa zusätzlich einen VSD hat, rettet ihr das Leben, da so zumindest etwas sauerstoffreiches Blut in den Körperkreislauf gelangt. Im Buch erklärt Tessa Oskar, die einzige Therapie wäre „eine Herz-Lungen-Transplantation“ (S. 104). Auch das ist nicht richtig, denn eigentlich benötigen Neugeborene, die sowohl mit einem VSD als auch mit einer TGA zur Welt kommen, zügig die sogenannte Arterielle Switch-Operation, bei der Lungenarterie und Aorta kurz oberhalb der Herzklappen abgetrennt und vertauscht werden. Anschließend wird der VSD verschlossen, sodass der Kreislauf dann dem anatomisch richtigen Verlauf entspricht. 90% aller mit TGA geborenen Kinder erreichen übrigens das Erwachsenenalter, das heißt so tödlich wie die Krankheit hier dargestellt wird, ist sie glücklicherweise nicht. Bei Tessa wurden diese Operationen allerdings nie durchgeführt, warum auch immer. Sie wurde zwar mehrfach operiert, da sie auch eine OP-Narbe beschreibt, die von einer Sternotomie herrührt. Jedoch wurde laut ihrer Aussage weder das Loch geschlossen noch eine Switch-Operation durchgeführt. Was die Ärzte stattdessen getan haben, weiß ich nicht, und ich traue mich zu sagen: Anne Freytag weiß es auch nicht.

Natürlich liegt der Fokus des Romans auf den emotionalen Momenten und der Liebesgeschichte. Allerdings ist es schade, dass hier so wenig auf medizinische Korrektheit geachtet wird, und damit meine ich nicht, dass Tessa Ärtze-Latein beherrscht. Aber wenn man schon ein Krankheitsbild nutzt, um damit den Plot aufzubauen, sollte man die Gelegenheit nutzen, um für diese Krankheit mehr Bewusstsein zu schaffen und aufzuklären, anstatt Fehlvorstellungen aufzubauen. Tessa wirkt dafür, dass sie laut ärztlicher Prognose nur noch wenige Wochen hat, erstaunlich gesund. Die einzigen Symptome, die sie hat, sind anfallsartige Brustschmerzen, schnelle Erschöpfung und später auch Nasenbluten (warum auch immer). Die für einen Septumdefekt eigentlich typischen Symptome wie Tachykardie, Cyanose, Trommelschlägelfingern oder schwacher Puls beschreibt sie selten bis gar nicht. Die Wahrheit ist jedoch: Sollte sie mit einem Loch im Herzen leben, wäre sie auf Sauerstoff angewiesen und bräuchte dringend medizinische Versorgung. Wenn die Ärzte das Ende schon absehen können, wäre sie schon längst nicht mehr in der körperlichen Verfassung, einen Roadtrip zu machen. Das ist viel zu romantisierend und an der Realität vorbei. Auch dass die Sanitäter Tessa nach kurzer ambulanter Behandlung im Krankenwagen, nachdem sie so einen starken Herzanfall hat, dass sie ohnmächtig wird, direkt wieder entlassen, ist komplett abwegig. Was Tessa hier beschreibt, sind Symptome eines Herzinfarkts, die auch bei einer chronischen Erkrankung nicht normal sind. Zudem erzählt sie, dass sie in dem Moment Todesangst hatte. Aber nach der Gabe einer magischen Infusion und etwas Sauerstoff lassen die Sanitäter, bzw. die Notärzte (wird hier synonym verwendet, obwohl es zwei verschiedene Berufe sind), sie einfach wieder gehen? Im echten Leben wäre der Abend für Tessa gelaufen, denn man hätte sie mit Lichtgeschwindigkeit im nächsten Krankenhaus zur Abklärung eingeliefert. Im realen Leben hätte Tessa ihre letzten Wochen nicht in Italien, sondern im Kinderhospiz verbracht. Ich glaube, dass Freytag einfach eine todkranke Protagonistin schreiben wollte, die ausnahmsweise keinen Krebs hat. Dabei kreiert sie jedoch jemanden, der durch eine Operation sehr wohl gerettet werden könnte.

Was mir dagegen sehr gut gefallen hat, ist die Playlist, die auf der hinteren Innenseite des Buchdeckels abgedruckt wurde. Sie besteht aus insgesamt 25 Songs, inklusive „Wings“ von Birdy, „Blame It On Me“ von George Ezra und meinem persönlichen Favoriten „Sweet Disposition“ von The Temper Trap. Ich habe die Playlist minimal abgeändert bei Spotify gespeichert und sie beim Lesen gerne gehört. Die Songs unterstreichen die emotionalen Szenen und passen wunderbar zur Atmosphäre der Geschichte. Die Playlist ist also ein kleiner süßer Bonus!

Das Ende ist sicherlich vorhersehbar, aber auch wunderschön erzählt. Es schmeckt bittersüß, aber was bleibt, ist Liebe und Dankbarkeit. Nach diesem Buch ist mir noch einmal bewusst geworden, wie wichtig Mut, Hoffnung und das Leben im Hier und Jetzt sind. Und dass Oskar einer der besten Book-Boyfriends aller Zeiten ist!

Fazit

Bei der Bewertung von „Mein bester letzter Sommer“ aus dem Jahr 2016 bin ich etwas zwiegespalten. Einerseits hat mir der emotionale und leicht poetische Schreibstil von Anne Freytag sehr gut gefallen. Tessa ist eine authentische Protagonistin und dass sie sich in Oskar verliebt, ist nur zu gut nachvollziehbar. Ich habe mich für Tessa gefreut und um sie geweint. Die beigefügte Playlist untermalt die sommerlich melancholische Atmosphäre ausgezeichnet, wodurch ich nur so durch die Seiten geflogen bin. Andererseits ist die medizinische Ungenauigkeit erschreckend. Nicht nur, dass Tessas Krankheitsbilder keine Todesurteile sind sondern auch, dass scheinbar mehrfach an ihrem Herzen operiert wurde, ohne das Loch zu schließen bzw. die Lungenarterie zu verpflanzen, ist absolut sinnbefreit. Als chronisch Kranke schildert sie nur akute Symptome. Sie wird als blass beschrieben, aber nie als cyanotisch, was typisch für Sauerstoffmangel wäre. Die Medikamente, die sie einnimmt, sind allesamt erfunden. Tessa wurde geschrieben, um zu sterben und nicht, um medizinisch auch nur ansatzweise Sinn zu ergeben. Natürlich habe ich mit meiner kardiochirurgischen Expertise einen anderen Blick auf diese Dinge als die meisten. Aber vergleichbare Bücher wie „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ oder „Bevor ich sterbe“ haben die medizinischen Aspekte eben deutlich besser hinbekommen. Macht euch also bewusst, dass die Darstellung von Krankheit und Tod ziemlich verkitscht und an der Realität vorbei ist. Außerdem ist der Plot recht vorhersehbar, aber das ist bei dieser Art von Geschichten nicht weiter verwunderlich. Da mich das Jugendbuch aber trotz dieser Kritikpunkte stellenweise zutiefst berührt hat und eine starke Sogwirkung hatte, möchte ich ihm gerade noch so vier von fünf Federn geben. Von Freytag habe ich noch „Den Mund voll ungesagter Dinge“ auf dem SuB, was ich vielleicht nächstes Jahr lesen werde.