Flavia de Luce – Mord im Gurkenbeet

Flavia de Luce – Mord im Gurkenbeet
3. Juli 2024 0 Von lara

Eine liebenswürdige Giftmischerin

Meine Juli-Rezension 2024


Die Flavia de Luce-Reihe von Alan Bradley liegt schon seit Ewigkeiten auf meinem SuB. Der erste Band „Mord im Gurkenbeet“ ist 2010 auf Deutsch erschienen, hat also schon einige Jahre auf dem Buckel. Die inzwischen zehnteilige Reihe ist mir damals mehrfach in einer Büchergruppe empfohlen worden und auch bei Freunden habe ich ein paar Bände im Bücherregal entdeckt. In der Detektivroman-Reihe geht es um die schlagfertige Flavia, die eine morbide Faszination für Gifte hat und damit mehrere Mordfälle löst. Obwohl das Cover nicht den Anschein macht, ist diese Geschichte nicht nur etwas für Jugendliche, sondern für alle, die Spaß an einer einzigartigen Detektivgeschichte haben.

Inhalt

Die elfjährige Flavia de Luce lebt im Juni 1950 auf dem Anwesen Buckshaw im englischen Dörfchen Bishop’s Lacey. Mit ihr auf dem Herrenanwesen wohnen ihr eigenbrötlerischer Vater Haviland sowie ihre älteren Schwestern Ophelia und Daphne. Zu Flavias Zuhause gehören außerdem die Haushälterin Mrs Mullet und der Gärtner Dogger. Eines Tages findet Mrs Mullet eine tote Schnepfe am Hintereingang zur Küche. Besonders die Briefmarke, die auf dem Schnabel aufgespießt ist, weckt Flavias Interesse. Kurz darauf betritt ein fremder Mann Buckshaw und Flavia belauscht ein Streitgespräch zwischen ihm und ihrem Vater. Am nächsten Morgen liegt dieser Mann tot im Gurkenbeet. Kein Wunder also, dass Haviland bei den Ermittlungen der Polizei schnell unter Verdacht gerät. Doch die Giftmischerin Flavia versucht alles, um die Unschuld ihres Vaters zu beweisen und den wahren Mörder zu finden.

Cover

Die alten Cover der Reihe sind vom bekannten Illustratoren Iacopo Bruno gestalten worden, der auch die aktuellen Cover von „Harry Potter“ entworfen hat. Auf sandfarbenem Grund mit viktorianischem Tapetenmuster steht ein dunkelblauer Ohrensessel mit gekrümmten Holzbeinen. Davor steht ein Mädchen, das zu 100% an Wednesday Adams erinnert: Sie ist blass und dünn, hat lange, schwarze Haare, die in zwei strenge Flechtzöpfe gebunden sind und trägt ein schwarzes Kleid mit Knopfleiste, weißem Bubikragen und Hemdsärmeln. Dazu trägt sie eine schwarze Strumpfhose mit kurzen Stiefeln. Sie schaut den Betrachter ausdruckslos an, fast schon musternd. Neben Flavia steht eine schwarze Katze und auf der Sessellehne hockt ein Rabe. Neben dem Sessel sprießen links und rechts dunkle Ranken empor, vielleicht eine Anspielung auf das Gurkenbeet. Obwohl mir dieser düstere Vibe gefällt, der an Coraline erinnert, spricht er für mich eher ein jüngeres Publikum an. Das ist schade, denn ich finde, diese Bücher sind All-Age-Romane. Inzwischen gibt es neue Cover, aber mir persönlich gefallen die alten besser.

Kritik

„Im Wandschrank war es so dunkel, und die Dunkelheit hatte die Farbe von altem Blut.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels. Die Ich-Erzählerin Flavia beginnt im Präteritum damit, dass sie von ihren älteren beiden Schwestern in den Wandschrank auf dem Dachboden gesperrt wurde. Das Verhältnis zwischen Flavia und ihren Schwestern ist also mindestens angespannt. Aber auch die morbide Flavia, die Dunkelheit mit Blut vergleicht, spielt Feely und Daffy so manch einen fiesen Streich. Ihr erster Fall als Detektivin, der „Mord im Gurkenbeet“, wird auf annähernd 400 Seiten in 27 Kapiteln erzählt.

Die Protagonistin Flavia ist gerade einmal elf Jahre alt und schon ein kleines Genie. Ihre Mutter, eine einst berühmte Schauspielerin, ist vor einigen Jahren bei einem Bergunglück ums Leben gekommen. Als Halbwaise mit einem oft beschäftigten Vater und zwei Schwestern, die keine Lust auf sie haben, verbringt Flavia viel Zeit alleine, vor allem in dem verlassenen Labor, das in einem Flügel von Buckshaw liegt. Während sich Ophelia fürs Musizieren und Daphne für Literatur interessiert, schlägt Flavias Herz für die Chemie. Ganz besonders haben es ihr die Gifte angetan. Mit Arsen, Zyankali oder Quecksilber kennt sie sich bestens aus. Sie liest am liebsten Fachbücher von Chemikern oder destilliert Giftefeu, um ihn ihrer Schwester heimlich in den Lippenstift zu rühren. Sie versteht chemische Reaktionsgleichungen und beherrscht von den gängigsten Verbindungen die Summenformel. Allgemein ist sie überdurchschnittlich intelligent. Sie ist sehr neugierig und abenteuerlustig, sodass sie auch vermeintlich unheimliche oder gefährliche Situationen nicht abschrecken. Sie hat einen spitzzüngigen Humor und ist Erwachsenen gegenüber enorm schlagfertig, wenn nicht sogar frech. Hinter ihrer selbstbewussten Fassade verbirgt sich gleichzeitig eine komplexe Gefühlswelt. Sie kämpft oft mit der Einsamkeit, hat das Gefühl, die Außenseiterin der Familie zu sein und hat den Verlust ihrer Mutter noch nicht verwunden. Flavias Persönlichkeit hat aber nicht nur positive Seiten. Sie ist impulsiv, weshalb sie manchmal unüberlegt handelt oder ihre Zunge nicht im Zaum halten kann. Gleichzeitig ist sie aber auch manipulativ und nutzt ihr kindliches Äußeres dazu, Erwachsene an der Nase herumzuführen. Einmal weint sie absichtlich, um Mitleid zu erregen und ihr Ziel zu erreichen. Auch ihre Faszination für Gifte und den Tod macht sie in den Augen anderer Figuren zu einem ungewöhnlichen, gar unheimlichen Mädchen. Kurzum, Flavia de Luce ist eine tiefgründige und komplexe Protagonistin mit Stärken und Schwächen, die mir schnell ans Herz gewachsen ist. Für mich gehört sie bisher definitiv zu den besten Hauptfiguren des Jahres!

Bradley verwendet eine sehr bildhafte sowie detailreiche Sprache gespickt mit Personifikationen und Vergleichen. Der Sommer 1950, der hier beschrieben wird, erscheint unwahrscheinlich lebhaft und kreiert eine einnehmende Immersion. Der Schreibstil ist geschliffen, geistreich und eloquent. Auch hier kann dieses Buch überdurchschnittlich gut punkten. Das Tempo ist eher gemächlich, wobei es niemals langatmig wird. Vielmehr erlaubt dieses Tempo der nostalgischen Atmosphäre, stärker zu wirken. Die detaillierten Beschreibung der Umgebung des ländlichen Englands mit seinen Herrenhäusern und kleinen Dörfern, beschwört einen charmanten Nimbus. Gleichzeitig gibt es eine unterschwellige Spannung, weshalb Bishop’s Lacey geheimnisvoll und leicht düster scheint. Tod und Vergänglichkeit sind stets präsent, ohne die humorvolle Erzählung zu überschatten. Dieses Buch ist wahrhaft eine kleine Perle!

Auch wenn das Cover vielleicht den Eindruck vermittelt, „Flavia de Luce“ wäre in erster Hinsicht eine Buchreihe für Kinder oder Jugendliche, ist eigentlich das Gegenteil der Fall. „Mord im Gurkenbeet“ befasst sich mit ernsten Themen wie Tod, Altersschwäche, Einsamkeit, soziale Ungerechtigkeit oder Sexismus. Es gibt eine unterschwellige Gesellschaftskritik, die die meisten Kinder sicherlich noch nicht verstehen werden. So leidet der auf den ersten Blick verrückte Gärtner Dogger vermutlich unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, da er Soldat im Zweiten Weltkrieg war. Außerdem wird immer wieder auf historische Persönlichkeiten aus dem 19. und 20. Jahrhundert angespielt, von denen auch mir bei Weitem nicht jede ein Begriff war. Von Albert Einstein, König Georg VI. oder Charles Dickens werden die meisten sicherlich gehört haben, aber andere prominente Schauspieler, Dramatiker, Komponisten oder Sportler wie José Iturbi, George Bernard Shaw oder Joe Louis musste ich erst einmal nachschlagen. Ein einigermaßen umfassendes historisches Verständnis ist also unabdingbar, um bei Flavia de Luce in den vollen Lesegenuss zu kommen.

Hinzu kommen natürlich die zahlreichen chemischen Stoffe, Elemente und Reaktionen, mit denen sich Flavia ganz nebenbei beschäftigt. Wenn sie den Unterschied zwischen Alkalimetallen wie Lithium, Natrium, Kalium oder Caesium und Erdalkalimetallen wie Beryllium, Magnesium, Calcium, Barium oder Radium erklärt, ist jedes Basiswissen über das Periodensystem nützlich. Ich persönlich bin doch recht froh, ein wenig Chemie im Studium gehabt zu haben, denn so konnte ich zumindest ansatzweise nachvollziehen, wie Flavia einst das Gegenmittel von Arsen hergestellt hat, was die Summenformel von Tetrachloridmethan ist oder warum man Kalziumkarbonat erhitzt, um Zyankali zu gewinnen. Dabei sind die chemischen Zusammenhänge perfekt recherchiert und die Wirkung von Giften realistisch geschildert. Auch hier würde ich sagen, macht das Buch noch mehr Spaß, wenn man über ein solides chemisches Fachwissen verfügt, was das der meisten Kinder und Jugendlichen wohl übersteigt.

Natürlich rätselt man bei einem Detektivroman immer mit, schließlich ist die Frage nach dem Mörder, der Todesursache sowie dem Motiv wichtig für die Spannung. Tatsächlich konnte mich Bradley ordentlich an der Nase herumführen und ich lag mit meiner ersten Vermutung falsch. Erst ab der Hälfte des Romans hatte ich einen neuen Verdacht, der mich auf eine bessere Fährte brachte. Die Auflösung zum Schluss ist gleichermaßen überraschend wie sinnvoll. Der „Mord im Gurkenbeet“ ist wie ein Puzzle, dessen Teile perfekt ineinander greifen und am Ende ein glaubhaftes Bild präsentieren. Das Finale ist fesselnd und das letzte Kapitel aufschlussreich, witzig und herzerwärmend.

Fazit

Ich hatte bereits vermutet, dass die Detektivroman-Reihe um Flavia de Luce wirklich gut ist. Aber dass sie so grandios ist, hätte ich nicht erwartet. Flavia ist eine der komplexesten und liebenswürdigsten Protagonisten aller Zeiten. Der Schreibstil ist mit seiner Mischung aus cleverem Humor und literarischer Feinheit geradezu überragend. Die Recherchearbeit in puncto Chemie und Kulturgeschichte ist absolut makellos. Dazu ist der „Mord im Gurkenbeet“ ein spannender Fall, der mich nur so an den Seiten kleben lassen hat. Ich habe lange überlegt, ob ich am ersten Band der Reihe irgendetwas zu kritisieren habe, aber mir fällt nichts ein. Es ist schade, dass diese Reihe nicht allzu bekannt ist, denn sie hätte wirklich einen Hype verdient. Für mich gehört „Flavia de Luce – Mord im Gurkenbeet“ von Alan Bradley tatsächlich zu meinen Jahreshighlights. Deswegen gebe ich dem 2010 erschienenen Roman alle fünf Federn. Ich habe Flavia und das dörfliche Bishop’s Lacey tief in mein Herz geschlossen und werde so bald wie möglich den zweiten Band „Mord ist kein Kinderspiel“ lesen.