Zerschunden
Die Suche nach dem Miles&More-Killer
Meine dritte Januar-Rezension 2024
Das Motto der Lesechallenge im Januar lautete: Hallo 2024! Lies ein Buch von einem deutschsprachigen Autor. Das hat sich wunderbar getroffen, denn ich wollte schon länger eine bestimmte Reihe von meinem SuB befreien. „Zerschunden“ ist der Auftakt der Fred Abel-Reihe von Michael Tsokos. Vor kurzem hat er seine Leitungsposition in der Rechtsmedizin der Berliner Charité aufgegeben. Seine Sachbücher habe ich förmlich verschlungen. Nun hat er mit „Zerschunden“ einen True-Crime-Thriller geschrieben, bei dem eine fiktive Geschichte auf echten Kriminalfällen basiert. Denn nichts ist so grausam wie die Realität.
Inhalt
Der 44-jährige Dr. Fred Abel arbeitet als Rechtsmediziner beim Bundeskriminalamt in Berlin. Da seine Einheit Extremdelikte behandelt, ist er den Anblick von durch Gewalt zu Tode gekommene Menschen gewöhnt. Mithilfe seiner Untersuchungen kann er die Todesursache und den Tathergang rekonstruieren. Doch eine europaweite Mordserie lässt auch ihn sprachlos zurück. Stets in der Nähe von Flughäfen tauchen merkwürdig beschriftete Frauenleichen auf, denen der Täter bis in die Wohnung gefolgt ist. Als nach einer Chromosomen-Analyse sein guter Freund Lars Moewig unter Verdacht gerät, kommen Abel Zweifel. Es liegt nun an ihm, die Schuld oder Unschuld seines alten Freundes zu beweisen.
Cover
Das Cover ist schlicht und doch bedrückend. Es zeigt die Oberfläche rauen Leders, welches in der Mitte genäht worden ist. Die Stiche sind grob und so fest gezogen, dass sich das Leder an den Nähten zu Falten spannt. Unten schaut ein Stück weißer Faden heraus. Es erinnert an Nähte, mit denen Leichen nach der Obduktion zusammengenäht werden. Diese Person verspürt keinen Schmerz mehr und eine Wundheilung wird es auch nicht geben. Dass das Cover dabei in Schwarzweiß mit hohem Kontrast ist, untermalt die Brutalität, die den Leser hier erwartet. Seid an dieser Stelle schon einmal vorgewarnt: dieser Thriller ist nichts für schwache Nerven!
Kritik
„Genau im richtigen Moment stieß er die Fahrertür des ockerfarbenen Peugeot Kastenwagens auf.“, ist der erste Satz des Prologs. Typisch für einen Thriller wird im Prolog erst einmal der namenlose Täter vorgestellt. Von Anfang an weiß der Leser, dass es sich hierbei um einen dunkelhäutigen Mann handelt, der Frauen auflauert, die alleine unterwegs sind. Mit dem Aufstoßen der Autotür provoziert er nämlich den Unfall einer Fahrradfahrerin, die er nach dem Sturz zu Boden drückt, fesselt und in den Kastenwagen wirft. Doch das ist nur der Beginn einer brutalen Mordserie.
Der True-Crime-Thriller hat über 400 Seiten mit Prolog, Epilog und 98 Kapiteln. Entsprechend kurz sind diese Kapitel, ebenfalls typisch für das Genre. Die Geschichte erstreckt sich von Freitag, dem 3. Juli 2015 bis zum Montag, dem 13. Juli. Zwischen den einzelnen Kapiteln wird viel gesprungen. Der auktoriale Erzähler wechselt alle paar Seiten zwischen der Opferperspektive, Ermittlern, einem Mädchen mit Leukämie, der Täterperspektive und Fred Abel wild hin und her. Es dauert mindestens 100 Seiten bis man sich in diesem Gewusel aus Figurennamen zurechtfindet. Entsprechend lange dauert es, bis ein roter Faden erkennbar wird. Denn auch die familiären Probleme des Protagonisten sind hier Thema.
Fred Abel entspricht dem Bilderbuchverschnitt eines literarischen Ermittlers: Er ist 1,89m groß, schlank und beruflich erfolgreich. Seine schwarzen Haare beginnen bereits zu ergrauen, doch körperlich ist er topfit und hat Erfahrungen mit Kampfsport. In seiner Einheit ist er berühmt-berüchtigt für seinen Scharfsinn, hat akademische Erfolge erzielt und gilt als einer der besten seines Faches. Abel fährt einen Audi A5 und trinkt seinen Kaffee immer schwarz. Ein richtiger Mann also! Er wird nur getoppt von Paul Herzfeld, dem anderen Rechtsmediziner aus Tsokos‘ Feder, der beispielsweise in „Abgeschlagen“ ermittelt. Den Link zur Rezension findet ihr ganz unten. Diese Verbindung zwischen den beiden Thriller-Reihen hat mir gut gefallen und eröffnet einen kleinen Kosmos. Charakterliche Tiefe soll Abel durch den Konflikt mit seiner älteren Schwester Marlene bekommen, die ihm vorwirft, in die Rechtsmedizin anstatt in die Forschung gegangen zu sein, um ein Heilmittel für die sterbenskranke Mutter zu finden. Das gelingt jedoch nicht wirklich. Abel wirkt zu konstruiert, zu schablonenhaft und zu wenig individuell. Seine Persönlichkeit ist so stereotyp, dass es schon fast wehtut. Er ist auf Teufel komm raus ein cooler, manchmal reizbarer Typ, der immer die Kontrolle über die Situation behält. Schnell hatte ich das Gefühl, dass einige Aspekte an diesem Thriller durchschnittlich sind.
Tsokos‘ Schreibstil ist klar, leicht verständlich und sachlich. Er beschreibt Leichen und forensische Untersuchungen sehr detailliert, wobei darin auch die Stärke dieses Thrillers liegt. Fachlich macht ihm so schnell niemand etwas vor. Die Erläuterung der Y-Haplotypanalyse ist wahnsinnig interessant und technisch nachvollziehbar erklärt. Allerdings muss an dieser Stelle auch eine Triggerwarnung ausgesprochen werden: Hier geht es um Tod, Gewalt, Vergewaltigungen und detaillierte Beschreibungen von Ermordungen. Wer sich mit der Vorstellungen von präzise beschriebenen Leichen, Blutbädern oder offenen Bauchhöhlen nicht wohlfühlt, sollte Zerschunden lieber nicht lesen.
Leider ist die Sogwirkung bei mir größtenteils ausgeblieben. Schlimmer noch: Obwohl der Plot ganz schön blutig ist, fand ich ihn stellenweise sogar langweilig. Das liegt auch an den zahlreichen Seitensträngen und namentlichen Nebenfiguren, die hier aufgemacht werden. Dieser Thriller versucht zu viel und schafft zu wenig. Einerseits das Familiendrama wegen Abels kürzlich verstorbener Mutter und dem Streit mit seiner Schwester, dann denkt er zwischendurch noch an eine Affäre von vor über 15 Jahren zurück. Dann obduziert er hier eine Leiche, dann geht es um ein sterbenskrankes Mädchen auf einer Intensivstation, dann um einen Mord in England, und dann wieder um Abels alten Freund, der unter Verdacht steht. Plötzlich wird Abel dann noch von Unbekannten bedroht und es geht um das Privatleben eines französischen Ermittlers, aber keiner dieser Erzählstränge kann aus diesem Knoten noch fein herausgearbeitet werden. Der Ermittlungsstand wird in zahlreichen Dialogen wiederholt, bis er einem zu den Ohren rauskommt. Das alles bremst das Tempo und auch die Spannung gehörig aus.
Genickbruch für Zerschunden waren dann aber die zahlreichen Fehler, die mir immer wieder negativ aufgefallen sind. Ich benenne hier mal einige, um das Problem zu verdeutlichen. Auf Seite 41 wird beschrieben, wie der Kollege Dr. Murau regelmäßig „Zeilen“ von Gedichten von Benn oder Baudelaire rezitiere. Allerdings heißt das bei Gedichten Verse, was vor allem peinlich ist, weil Tsokos mit Andreas Gößling einen Coautoren hat, der für eine ausreichende literarische Expertise engagiert wurde. Typisches Thriller-Klischee ist auch der Satz „Ich brauche die Ergebnisse der DNA-Analyse noch heute auf meinem Schreibtisch.“ (S.75). Tatsächlich war das 2015 technisch kaum möglich, da die Kaskade an Analyseverfahren etwa 72 Stunden benötigte. In diesem Fall ist sogar so wenig DNA vorhanden, dass sie nicht für ein Täterprofil genügt, weshalb Abel auf eine Chromosomen-Analyse setzt. Die DNA wurde unter den Fingernägeln des Opfers gefunden und bei so geringen Mengen müsste ohnehin erst einmal eine PCR durchgeführt werden, die der Vervielfältigung der DNA dient. Die Technik wird diesbezüglich zwar immer schneller, aber zum Handlungszeitpunkt vor gut 10 Jahren war das noch nicht so einfach. Tsokos weiß das sicherlich auch, übergeht das für das Erfüllen einiger Thriller-Klischees allerdings.
Hinzu kommen sprachliche Fehler, wie Hauptkommissar Markwitz, der einmalig „Marwitz“ (S. 151) genannt wird, oder Nasen, die „geschneuzt“ (S. 262) anstatt geschnäuzt werden. Stutzig gemacht haben mich auch die Kellnerinnen in einer Krankenhaus-Kantine (normalerweise ja immer Selbstbedienung) oder dass einer Angehörigen in der Klinik gegen ihren Willen ein Beruhigungsmittel gespritzt wird. Erstens muss jede Applikation von Medikamenten dokumentiert werden, was bei einer Angehörigen nicht geht, da es keine angelegte Akte gibt. Zweitens kann die Gabe des Medikamentes nicht abgerechnet werden, denn im Gesundheitssystem geht es ja immer um Geld. Und drittens ist die Gabe gegen den Willen, denn die Frau wehrt sich, nur unter ganz bestimmten Bedingungen möglich, die hier nicht gegeben sind. Dieser Frau gelingt es dann auch später, ein Krankenbett mitsamt Patientin von der Intensivstation zu entführen, was völlig realitätsfremd ist, da natürlich auch nachts pflegerisches und ärztliches Personal vor Ort ist und eine Meldung an der Zentrale erhalten würde. Auch das weiß Tsokos als Mediziner garantiert, doch hier wird mit Klischees einfach um sich geschmissen.
Außerdem wird auf S. 318 ein „Alubehälter“ in eine Mikrowelle gesteckt. Bitte macht das nicht zuhause nach, denn das Aluminium reflektiert die Wellen anstatt sie zu absorbieren, was zu Explosionen führen kann. Ich hatte selbst mal eine Kollegin, die dumm genug war, einen Kochtopf in die Mikrowelle zu stellen. Ende vom Lied: Die Mikrowelle war kaputt und der Chef sauer. Nicht zuletzt kommt dann aber der gröbste Schnitzer: Die falsche Beschreibung von Psychopathen und Soziopathen. Bei Tsokos heißt es: „Psychopathen waren außerstande, sich in andere Menschen einzufühlen. Die einzigen Gefühle, die sie aus eigenem Erleben kannten, waren Hass und Wut“ (S. 319). In Wahrheit sind Psychopathen aber charmant, chronische Lügner, manipulativ, aber in der Gesellschaft gut integriert. Soziopathen werden bei Tsokos als „Meister der Verstellung“ (S. 320) beschrieben. „Sie konnten sich in ihre Opfer hineinversetzen, sie manipulieren, in jede beliebige Rolle schlüpfen.“ (S. 320). Diese Beschreibung trifft vielmehr auf einen Psychopathen zu, denn Soziopathen sind eher impulsiv, aggressiv, leben am Rand der Gesellschaft und haben oft keinen festen Partner. Hier sind die Definitionen also schlichtweg vertauscht. Damit wird auch unser Serienmörder im Thriller als Psychopath bezeichnet, obwohl er tatsächlich ein Soziopath ist. Das ist übrigens nicht der erste Thriller, in dem die Bezeichnung Psychopath falsch verwendet wird.
Das Aufzählen dieser sprachlichen, inhaltlichen und logischen Fehlern mag zwar kleinkariert wirken, in ihrer Summe sind es aber eindeutig zu viele. Zerschunden wirkt auf mich lieblos, undurchdacht und wie ein Krimi, der auf Biegen und Brechen versucht ein Thriller zu sein. Das Lektorat hätte wirklich besser sein können. Auch das Ende ist überraschend unspektakulär, vorhersehbar und klischeebeladen. Lediglich der Epilog mit einem heftigen Cliffhanger konnte mich positiv überraschen.
Fazit
Leider konnte mich „Zerschunden“ nicht wirklich überzeugen. Ich finde das schade, weil ich Michael Tsokos unheimlich sympathisch finde und auch seine Sachbücher sehr lesenswert sind. Aber hier ist leider einiges schief gelaufen. Sei es ein stereotyper Protagonist, die ausbleibende Sogwirkung, Thriller-Klischees ohne Ende, zu viele Erzählstränge mit zu vielen namentlichen Nebenfiguren, die keinen Mehrwert für den Plot haben oder die zahlreichen Fehler. „Zerschunden“ versucht ein vielschichtiger Thriller zu sein, ist aber höchstens ein durchschnittlicher, wenn auch blutiger Krimi. Die Stärken dieses True-Crime-Thrillers liegen im klaren Schreibstil und Tsokos‘ fachlichen Kompetenzen, aber insgesamt ist der Plot doch recht vergessenswert. Deswegen kann ich für das Buch aus dem Jahr 2015 leider nicht mehr als zwei Federn geben. Dennoch gebe ich der Fortsetzung „Zersetzt“ noch eine Chance, denn ich habe sie bereits auf meinem SuB.