Amokspiel

Amokspiel
16. August 2023 0 Von lara

Horrorspiel im Radio

Meine August-Rezension 2023

Für die Lesechallenge im Juli sollte ich ein Buch lesen, das nur ein Wort als Titel hat. Tatsächlich habe ich viel schneller ein Buch gefunden als erwartet, denn sehr weit oben auf meinem SuB lag Amokspiel von Sebastian Fitzek. Der Psychothriller erschien 2007 und ist Fitzeks zweiter Roman. Grundsätzlich versuche ich, mindestens einen Fitzek pro Jahr zu lesen. Dies ist also mein obligatorischer Fitzek für 2023. Amokspiel erzählt die Geschichte einer Geiselnahme im Radio in Berlin, bei der ein beliebtes Radio-Gewinnspiel zum einem russischen Roulette geändert wird: jedes Mal, wenn eine zufällig angerufene Person nicht die richtige Parole sagt, stirbt eine Geisel.

Inhalt

Die Kriminalpsychologin Ira Samin ist seit dem Tod ihrer ältesten Tochter Sara schwer depressiv und alkoholkrank. Von aller Hoffnung verlassen plant sie, sich das Leben zu nehmen, als sie zu einer Geiselnahme gerufen wird. Im Radiosender 101.5 hat sich ein Geiselnehmer verschanzt, der die Sendung übernommen hat. Das Horrorspiel, das er geplant hat, hat folgende Regeln: er ruft eine beliebige Nummer in Berlin an. Wird beim Abnehmen eine bestimmte Parole gesagt, kommt eine Geisel frei. Falls nicht, stirbt jemand. Am Verhandlungsort angekommen bemerkt Ira, dass unter den gefangenen Personen im Studio auch ihre zweite Tochter Katharina ist. Weil sie bereits eine Tochter verloren hat, kämpft Ira mit aller Macht darum, Katharina zu retten.

Cover

Da der Psychothriller schon ein Paar Jahre auf dem Buckel hat, gibt es verschiedene Cover zu diesem Buch. Das älteste zeigt einen dunklen Raum mit einem großen Fensterrahmen. Durch das Fenster erkennt man ein Panorama Berlins mit dem Fernsehturm. Am Himmel hängen blutrote Wolken. Das neue Cover ist recht schemenhaft mit Licht, das von draußen auf eine Wand fällt, in der eine Tür mit einer verkratzten Türklinke eingelassen ist. Ein Schatten einer Person fällt an diese Wand, vermutlich der Geiselnehmer, obwohl der Raum nicht wie ein Radiostudio aussieht. Ich finde beide Cover recht nichtssagend. Besonders positiv ist mir aber das Cover der englischen Übersetzung aufgefallen. Das zeigt nämlich ein weißes Mischpult mit roten Blutspritzern. Schlicht, und doch eindeutig demonstriert es, dass es um ein Horrorspiel im Radio geht.

Kritik

„Der Anruf, der sein Leben für immer zerstörte, erreichte ihn exakt um 18.49 Uhr.“, ist der erste Satz des Prologs, der ein zündender Hook ist. Wer er ist, wird im Prolog nicht verraten und stellt die Leserschaft schon vor das erste Rätsel. Der Psychologe wartet auf seine Freundin Leoni, der er am Abend einen Heiratsantrag machen will. Doch sie ruft ihn an und warnt ihn, dass jemand tot sei und er niemandem glauben dürfe. Kurz darauf klingelt ein Polizist an der Tür und erklärt dem Mann, Leoni sei vor wenigen Stunden bei einem Autounfall verstorben. Aber was hat das alles mit der Geiselnahme im Radio zu tun?

Der Psychothriller ist in drei Teile unterteilt, ähnlich wie ein Dreiakter mit Exposition, Wendepunkt und Katastrophe. Dabei sind die Kapitel in den jeweiligen Teilen durchnummeriert, der zweite Teil beginnt demnach wieder mit Kapitel 1. Neben Prolog und Epilog kommt man somit auf 19+43+40=102 Kapitel bei über 400 Seiten. Die Kapitel sind also, typisch für Thriller, kurz und knackig. Eher untypisch ist der auktoriale Erzähler im Präteritum.

Hauptfigur ist die Kriminalpsychologin Ira Samin. Sie ist eine Frau mittleren Alters, Kriminalpsychologin mit dem Schwerpunkt auf Geiselnahmen und Mutter zweier Töchter. Sie ist geschieden, hat aber eine Affäre mit ihrem SEK-Kollegen Oliver Götz. Trotz ihrer erfolgreichen Karriere ist Ira eine gescheiterte Existenz. Sie ist Alkoholikerin und seit dem Selbstmord ihrer älteren Tochter Sara selbst suizidgefährdet. Zu ihrer jüngeren Tochter Katharina, kurz Kitty, hat sie seit Saras Tod keinen Kontakt mehr, weil ihre Tochter sie dafür verantwortlich macht. Zu Beginn von Amokspiel bereitet Ira gerade ihren eigenen Freitod vor, als sie als Verhandlungsführerin zur Geiselnahme im Radio gerufen wird. Ira ist eine durchweg bemitleidenswerte Figur, die seelisch zutiefst gebrochen ist. Ihre Sympathie generiert sie in erster Linie aus Mitleidspunkten. Sie ist eine scharfsinnige Frau, die ihre Sinne allerdings zu oft mit Alkohol benebelt oder unter dem Kater bzw. dem Entzug zu leiden hat. Dementsprechend halten manche ihrer Kollegen und Vorgesetzten sie nicht für geeignet, die Verhandlung durchzuführen.

Nach kurzer Zeit wurde deutlich, dass sich bei Amokspiel keine Sogwirkung entfaltet. Die anderen Thriller von Fitzek konnten mich schnell in ihren Bann ziehen, aber hier kommt wenig Spannung auf. Während ich bei anderen Thrillern regelrecht miträtsel, mehr als 100 Seiten pro Tag lese und versuche, die verworrenen Geheimnisse zu durchschauen, konnte ich hier das Buch gut weglegen, ohne weiter darüber nachzudenken. Schnell kam bei mir das Gefühl auf, dass Amokspiel nicht zu meinen Thriller-Favoriten avancieren wird.

Das liegt nicht zuletzt an den zahlreichen Logikfehlern, die sich im Verlauf auftun. Ira geht zum Kiosk um die Ecke, um sich dort eine Cola zu kaufen, mit der sie die für ihren Suizid vorgesehene Giftkapseln herunterschlucken will. Und als hätte sie einen GPS-Tracker bei sich, taucht mitten im Kiosk, in dem es plötzlich zu einer Schießerei kommt, Oliver Götz in voller SEK-Montur auf und rettet sie. Als hätte er gerochen, wo sie sich gerade aufhält. Grundsätzlich ist es auch nicht logisch, warum die Polizei dieses Spielchen mit dem Geiselnehmer so lange mitspielt, anstatt einfach das Studio zu stürmen und ihn unschädlich zu machen. Eine fadenscheinige Begründung dafür ist eine sogenannte Totmanneinrichtung, die am Hals des Mannes installiert ist und den Sprengstoff zur Explosion bringen soll, wenn kein Puls mehr nachweisbar ist. Allerdings funktionieren Totmanneinrichtungen nicht so, sondern reagieren auf Bewegungslosigkeit oder die waagerechte Körperlage, nicht aber auf den Puls. Außerdem gibt es kein Pulsmessgerät am Hals. Man kann ihn entweder mit Elektroden auf der Brust, einer Manschette oder einem Oxymeter nachweisen. Eine einzelne Elektrode am Hals reicht aber nicht aus. Zudem können Elektroden oder Messgeräte verrutschen, was dann zu einer ungewollten Zündung führen würde. Umso komischer, dass die ganze Polizeieinheit auf diesen offensichtlichen Bluff hereinfällt. Grundsätzlich verhält sich die Einheit immer wieder erstaunlich unprofessionell und spielt dem Geiselnehmer mit ihren Fehlern sogar in die Hände, z.B. als der Scharfschütze dazu gezwungen wird, eine scharfe Waffe in das Studio zu werfen. Die Studiotür ist durch ein elektronisches Zahlenschloss gesichert, was automatisch für zehn Minuten verriegelt, wenn mehrmals der falsche Code eingegeben wurde. Das ist im Prinzip das Einzige, was den Geiselnehmer vom SEK trennt. Muss er also alle zehn Minuten wieder zur Tür rennen, um sie zu verriegeln?

Ebenfalls negativ aufgefallen ist mir die Verwendung des Begriffs „Psychopath“ von den Kriminalpsychologen und Profilern. In Amokspiel wird es allgemein für einen Geisteskranken verwendet, obwohl es eigentlich eine antisoziale Persönlichkeitsstörung ist, die mit Funktionsstörungen bestimmter Hirnareale einhergeht. Typische Psychopathen sind sprachgewandte Blender mit oberflächlichem Charme, hinter dem sich allerdings manipulatives Verhalten sowie ein Mangel an Empathie verbirgt. All das trifft nicht auf den Geiselnehmer zu, obwohl die vermeintlichen Profis ihn so titulieren. Diese und weitere Kleinigkeiten weisen immer wieder auf, dass dieser Thriller einer von Fitzeks frühen Werken ist und er mit medizinischen und psychologischen Themen erst ein wenig auf Tuchfühlung gehen muss. Wovon Fitzek allerdings wirklich Ahnung hat, sind Radiosender. Früher arbeitete er selbst beim Radio, unter anderem beim Berliner Radiosender 104.6 RTL. Die Beschreibung der verschiedenen Aufnahmestudios, der Räumlichkeiten und der Geräte zeigt seine langjährige Erfahrung in dem Business.

2018 wurde Amokspiel als Sat.1-Fernsehfilm mit Franziska Weisz und Kai Schumann in den Hauptrollen verfilmt. Das ist die bisher vierte Fitzek-Verfilmung, von denen ich aber nur Abgeschnitten gesehen habe. Die Kritiken fielen eher schlecht aus. Meist wurden Dramaturgie, Kostüm, die Glaubwürdigkeit von Nebenfiguren und das erzwungene Happy End kritisiert. Deswegen sehe ich auch keinen Grund, mir den Film anzusehen.

Das Ende ist ein regelrechter Showdown, der aber auch mit so einigen Ungereimtheiten daher kommt. Ich habe das Gefühl, Fitzek wollte unbedingt mit der unwahrscheinlichsten Auflösung daher kommen, und dafür war ihm keine Ausrede zu blöd. Logik sucht man hier vergebens. Dennoch ist das Finale spannend.

Fazit

Amokspiel von Sebastian Fitzek ist kein feinsinniger Thriller mit tiefgründiger Gesellschaftskritik. Vielmehr ist es eine stark konstruierte Geschichte über ein abstruses Szenario. Zahlreiche Logikfehler, wie die erfundene Totmanneinrichtung, ein Zahlenschloss als Hindernis oder eine Vermisste, der man ihre Gesichtsoperationen nicht ansehen soll, unterstreichen den Eindruck, dass Plotholes nur notdürftig gestopft wurden. Da sich hier bis zuletzt keine Sogwirkung entfaltet hat, bin ich von dem Psychothriller aus dem Jahr 2007 leider enttäuscht. Eine Antiheldin als Hauptfigur und ein Spannungsbogen, der zumindest nie gänzlich abflacht, können zwar etwas Abhilfe schaffen, aber insgesamt ist Amokspiel nur mittelmäßig. Aufgrund der Kritikpunkte kann ich Fitzeks zweitem Thriller nicht mehr als zwei Federn geben. Dennoch mache ich mit meinem Vorhaben weiter, Fitzeks Thriller chronologisch zu lesen. Für nächstes Jahr nehme ich mir aber jetzt schon Das Kind vor.