Raum

Raum
25. Januar 2023 0 Von lara

Faszinierend, verstörend und unvergleichbar

Meine zweite Januar-Rezension 2023

Aktuell habe ich einen richtigen Flow darin, SuB-Leichen zu befreien. Raum von Emma Donoghue habe ich gebraucht gekauft, etwa ein Jahr, nachdem Brie Larson den Oscar als beste Hauptdarstellerin der Buchverfilmung gewonnen hat. Seit 2017 setzt Raum in meinem Regal also Staub an. Vor Weihnachten habe ich dann aber den Film auf Netflix gesehen, der mich gleichzeitig begeistert und schockiert hat. Es ist eine fiktive Geschichte, die an reale Ereignisse angelehnt ist und kaum einem Genre zuzuordnen ist, allerdings leichte Elemente eines Psychothrillers hat. Die grandiose Verfilmung hat mir Lust auf das Buch aus dem Jahr 2011 gemacht, weshalb ich es jetzt endlich gelesen habe.

Inhalt

Der fünfjährige Jack lebt mit seiner Mutter in Raum. Er wurde dort geboren und hat den Raum noch nie verlassen. Die Welt hinter der Tür kennt er nur aus dem Fernseher. Den Himmel kennt er nur durch ein kleines Oberlicht. Seine Mutter versucht ihm eine so liebevolle Kindheit zu geben, wie es ihr nur möglich ist. Sie spielt mit ihm, liest ihm vor und gestalten den Tag so kreativ wie nur möglich. Doch nachts, wenn Old Nick Raum betritt, muss Jack ganz leise in seinem Schrank liegen. Er ist zufrieden mit seinem Leben im Raum, bis er anfängt, Fragen zu stellen und mehr über die Welt zu erfahren. Als sich ihm die Möglichkeit auftut, aus Raum zu entkommen, muss er sich entscheiden, ob er bei seiner Mutter bleibt, oder ob er die Welt da draußen entdecken will.

Cover

Weißer Grund. Vier Großbuchstaben, die aussehen, als wären sie mit Wasserfarben gemalt, in vier Farben: orange, rot, grün und blau. Die Farben verteilen sich auch in kleinen Sprenkeln um die Buchstaben, wie Blutstropfen. Obwohl dieses Bild so unscheinbar ist, mit seinen bunten Farben fast unschuldig wirkt, steckt eine subtile Brutalität in der Art, in der die Buchstaben auf dem Cover stehen. Das Buch war für mich kein Coverkauf, aber es besticht auf den zweiten Blick.

Kritik

„Heute bin ich fünf.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels Geschenke. Ein knapper Satz, der schon viel über Erzähler, Perspektive und Tempus verrät, denn: Der Ich-Erzähler berichtet im Präsens von seinem fünften Geburtstag. Ein fünfjähriger Ich-Erzähler lässt aufhorchen, zumal dies alles andere als ein Kinderbuch ist. Ähnlich wie bei Der Junge im gestreiften Pyjama wird die kindliche Perspektive dazu genutzt, den Horror dieser Geschichte ansatzweise erträglich zu erzählen. Umso schlimmer ist es aber, dass ein Kind dies alles miterleben muss. Falls ihr sehr sensibel seid, solltet ihr euch zweimal überlegen Raum zu lesen, denn dieses Buch ist nichts für schwache Nerven. Raum hat etwas mehr als 400 Seiten und ist in fünf große Kapitel unterteilt: Geschenke, Entlügen, Sterben, Danach und Leben.

Jack ist der fünfjährige Protagonist, der gemeinsam mit seiner Mutter, die er Ma nennt, im Raum lebt. Da er noch nie bei einem Frisör war, sind seine braunen Haare sehr lang, weshalb Ma ihm Zöpfe bindet. Obwohl er unter so widrigen Bedingungen aufwächst, ist er ein normaler, aufgeweckter und neugieriger Junge. Er stellt seiner Mutter viele Fragen, hat einen ausgeprägten Sinn für Fantasie und, typisch für sein Alter, seine Emotionen nicht immer im Griff. Aus Jacks Beschreibungen geht nicht immer hervor, was wirklich passiert, oder was erfunden ist. Dabei träumt er sich immer wieder in die Welt von Alice im Wunderland, was wirklich eine wunderschöner Verweis ist. Auch sprachlich muss er noch einiges lernen, denn er hat noch ein kindliches Vokabular und macht manchmal Grammatikfehler. So vergisst er bei Substantiven teilweise den Artikel, z.B. bei „auf Tisch“, „unter Bett“ oder „in Raum“, als wären es Eigennamen, zu denen er einen emotionalen Bezug hat. Er kann zudem unregelmäßige Verben oft nicht richtig flektieren, so sagt er bspw. „abgeschneidet“ oder „hineingestecht“. Das Steigern von Adjektiven macht ihm auch noch Probleme, wie bei „am meisten glatt“ oder „kälterer“. Für manche Begriffe verwendet Jack auch ganz andere Worte, wie z.B. „ein-“ und „ausschalten“ für aufwachen und einschlafen, oder „Planet“ für Fernsehsender. Denn das, was er im Fernsehen sieht, ist für ihn so weit weg, wie für uns Planeten. Trotzdem ist er ein kluger Junge, der für sein Alter recht eloquent ist und sogar gut schreiben und rechnen kann, was manchmal etwas widersprüchlich wirkt.

Dies verdankt Jack nicht zuletzt seiner Ma, die ihr Bestes gibt, um ihn so gut wie möglich zu erziehen. Wegen ihr ist Jack gewöhnlich und außergewöhnlich zugleich. Obwohl sie in dem Raum keine Aufgaben haben, versucht sie, einen Alltagsrhythmus beizubehalten. Sie kümmert sich um den kleinen Haushalt und hält alles so gut wie möglich in Ordnung. Sie ist eine sehr intelligente Frau und eine leidenschaftliche Mutter. Sie sorgt für regelmäßige Mahlzeiten, macht mit Jack Turnübungen, bildet ihn und spielt mit ihm. Dabei muss sie behelfsmäßig mit wenigen Geständen provisorisch Dinge basteln, denn Jack hat kaum Spielzeug. So spielt er mit einer Schlange, die aus an einer Schnur gefädelte Eierschalen besteht. Ma holt aus dem Nötigsten, das der fremde Mann bringt, das Meiste heraus. Nichts darf verschwendet werden und auch beschädigte Gegenstände werden weiterhin verwendet. Dass die Lebensbedingungen schlecht sind, merkt man auch daran, dass Mas Zähne schon angefault sind und sie häufig Zahnschmerzen hat. Offensichtlich hat sie schon sehr lange nicht mehr zum Zahnarzt gehen können. Dass sie trotz der schrecklichen Umstände, unter denen sie leben muss, eine so disziplinierte Löwenmutter ist, macht sie zu einer unvergleichlich starken Figur. Ich konnte nicht anders, als sie zu bewundern und als Heldin der Geschichte zu betrachten. Dennoch hat auch sie manchmal Tage, an denen sie völlig apathisch ist. Dann ist Jack auf sich allein gestellt und muss sich um sich selbst kümmern. Gerade in diesen Szenen fragt man sich, was für schreckliche Dinge in dieser Geschichte vor sich gehen, und wie Ma ursprünglich in den Raum gekommen ist.

Ab hier werde ich darüber schreiben, warum Jack Raum noch nie verlassen hat, und auf welche echten Fälle sich Donoghue hier bezieht. Das wird in der Geschichte schon nach etwa 100 Seiten aufgelöst, aber wenn ihr nicht gespoilert werden wollt, springt bitte jetzt zum Fazit. Ich habe den Film bereits gesehen, weshalb dies für mich keine Überraschung mehr war, und es war auch meine erste Vermutung. Ma wurde als 19-jährige auf dem Weg zum College von einem Mann unter einem Vorwand in sein Auto gelockt, betäubt und im Raum, einem schallgeschützten Gartenschuppen, eingesperrt. Dort hielt er sie jahrelang gefangen und vergewaltigte sie regelmäßig, sodass sie mit Jack schwanger wurde. Sie musste ihn alleine zur Welt bringen. Den Fleck kann man Jahre später noch auf dem Teppich sehen. Was Jack mit seinen naiven Sinnen wahrnimmt, ist manchmal an der Grenze des Erträglichen. Wenn Jack beschreibt, dass „Old Nick das Bett quietscht“, bedeutet dies nichts anderes, als das Jack ahnungslos miterlebt, wie seine Mutter gerade vergewaltigt wird. Solch verstörenden Szenen erträgt nicht jeder Leser, weshalb hier in einigen Punkten Triggerwarnungen ausgesprochen werden müssen, vor allem Gewalt, Vergewaltigung, Gefangenschaft, Abtreibung, Fehlgeburten und Suizide.

Dieses erschreckende Szenario von Raum ist allerdings keine Erfindung Donoghues: es gibt viele reale Verbrechen, die extrem starke Parallelen zum Buch haben. Der für die Autorin wichtigste Fall ist der des Josef Fritzl, der von 1984-2008 seine Tochter in einer Kellerwohnung in Österreich gefangen hielt, sie missbrauchte, vergewaltigte und mit ihr sieben Kinder zeugte. 2008 konnte sie befreit werden, nachdem ihre Tochter schwer erkrankte und von Fritzl in ein Krankenhaus gebracht wurde. Die Ärzte wurden bei der Anamnese skeptisch, und als die Tochter dem Personal einen Hilferuf auf einem Zettel überreichte, informierte es die Polizei. Vergleichbar ist auch der Fall der Natascha Kampusch, die 1998 in Österreich auf dem Schulweg entführt wurde und ebenfalls in einem Haus gefangen und vergewaltigt wurde, bis ihr 2006 die Flucht gelang. Bei meiner Recherche habe ich fünf weitere Fälle gefunden, in denen Mädchen entweder entführt oder vom Vater gefangen gehalten wurden, darunter in Brasilien, den USA, Belgien und Russland. Auch wenn Raum im ersten Moment zutiefst irritierend und verstörend ist, hat es also einen wahren Hintergrund. Die Wahrscheinlichkeit ist leider sehr hoch, dass irgendwo da draußen eine Frau, die seit Jahren vermisst wird, einen ähnlichen Horror durchleben muss.

Wer aktuell weder Lust noch Zeit hat, ein Buch zu lesen, sollte der Verfilmung von Raum unbedingt eine Chance geben. Ich empfinde sie als extrem starke Buchverfilmung. Brie Larson hat für ihre Rolle als Ma einen Oscar erhalten. Auch Jacob Tremblay ist als Kinderdarsteller unglaublich gut. Ich mochte ihn schon in der Verfilmung von Wunder. Durch die Kameraführung wird die Enge im Raum subtil vermittelt und die Atmosphäre ist perfekt getroffen. Auch auf Details, wie die Eierschlange wurde geachtet. Dialoge aus dem Buch wurden wortgetreu übernommen, was nicht zuletzt daran liegt, dass Donoghue das Drehbuch geschrieben hat. Gerade in der zweiten Hälfte gibt es Raffungen und Abweichungen, insgesamt ist die Verfilmung aber absolut sehenswert. Nicht umsonst hat sie auf Rotten Tomatoes herausragende 93% erhalten.

Wie in den realen Fällen, gelingt es auch Jack mithilfe seiner Ma, aus Raum zu entkommen. Damit ist das Buch aber gerade einmal zur Hälfte abgeschlossen. Die zweite Hälfte thematisiert die Eindrücke, die auf Jack einprasseln. Er lernt seine Großeltern kennen und spürt schnell, dass sein Großvater ein Problem mit ihm hat. Auch Ma fällt es schwer, sich in der Gesellschaft wieder zurechtzufinden, nicht zuletzt, weil die Presse sich gierig auf ihre Geschichte stürzt und sie zu einem Interview drängt. Die zweite Hälfte liest sich also fast wie ein anderes Buch mit neuen Figuren und anderen Schwerpunkten. Ich persönlich finde, dass die Geschichte in der zweiten Hälfte etwas nachlässt. Es ist einerseits interessant zu erfahren, welche Probleme es in den Beziehungen zu ihren Mitmenschen gibt und wie oft Jack sich unangemessen verhält, weil er mit vielen Dingen noch keine Erfahrung hat. Andererseits merkt man, dass nach der Flucht aus der Geschichte die Luft entweicht wie aus einem Ballon. Es ist nur noch ein Aneinanderreihen von interessanten, aber ziellosen Szenen.

Das Ende bleibt relativ offen. Es ist ein runder Abschluss, lässt aber noch viele Fragen über Jacks Zukunft oder die des Entführers unbeantwortet. Dennoch ist es ein guter Zeitpunkt, die Geschichte abzuschließen, denn der Clou von Raum, dass grausame Erfahrungen aus der naiven Perspektive eines Kindes erzählt werden, ist zu dem Zeitpunkt schlichtweg vorbei. Jack begreift immer mehr, was in diesem Raum passiert ist, lebt aber letztendlich in Sicherheit. Kurzum, die Luft war einfach raus aus dem Plot. Die Moral der Geschichte ist eindeutig: Liebe kennt keine Grenzen.

Fazit

Raum aus dem Jahr 2011 ist ein Roman, der kaum in eine Schublade zu stecken, kaum in Worte zu fassen ist. Raum ist faszinierend und verstörend gleichzeitig, ohne dabei ein wirklicher Psychothriller zu sein. Es ist eine einzigartige Geschichte mit einer ungewöhnlichen Erzählperspektive. Der Roman basiert lose auf realen Ereignissen, weshalb auch dringend die aufgezählten Trigger zu berücksichtigen sind. Wer damit aber zurecht kommt, sollte diesem außergewöhnlichen Roman eine Chance geben. Die zweite Hälfte ist leider etwas zäher und zielloser. Auch Jack ist zum Teil ein fragwürdiger Charakter, ist er doch einerseits sehr eloquent, tut sich aber andererseits noch mit dem Konjugieren von starken Verben schwer. Für die volle Punktzahl hat es deswegen nicht ganz gereicht, weshalb Raum von mir vier von fünf Federn erhält. Vorerst wird dies mein einziges Buch von Emma Donoghue bleiben. Viele ihrer Bücher sind nicht einmal ins Deutsche übersetzt worden. Ihr aktueller Roman Das Wunder scheint sich grob mit einer ähnlichen Thematik zu befassen wie Raum, spielt allerdings im 19. Jahrhundert in Irland, was mich persönlich wenig angesprochen hat.