Der Wanderer
Eine Geschichte wie eine Münze
Meine Juli-Rezension 2022
Aktuell komme ich einfach kaum zum Lesen. Ich bin mitten in der Klausurenphase, außerdem stehen noch Nebenjob, Hausarbeiten und nicht zuletzt der Urlaub an, der momentan mein kleiner Lichtblick ist. Zu allem Überfluss habe ich dann noch einen dicken Schinken gelesen, für den ich besonders viel Zeit gebraucht habe. „Der Wanderer“ von Trudi Canavan ist der zweite Band der vierteiligen Reihe „Die Magie der tausend Welten“ und erschien 2015. Der erste Band hat mir bereits gut gefallen, ich hoffe aber, dass dies wieder eine typische Canavan-Reihe ist. Bei vielen Trilogien anderer Autoren ist es eher der Fall, dass es einen starken Auftakt gibt, die Folgebände dann eher nachlassen und im schlimmsten Fall das Ende dann nur noch enttäuschend ist. Bei Canavan ist es eher umgekehrt: die Reihe nimmt sich viel Zeit, in den Plot einzusteigen und die Leserschaft muss vorerst eine komplexe High Fantasy-Welt durchblicken, bis man dann in einen Sog gerät, aus dem man nicht mehr so leicht herauskommt, und der in einem umwerfenden Finale mündet. Meine Erwartungshaltung war also, dass „Der Wanderer“ noch besser wird als der erste Band.
Inhalt
Fünf Jahre sind vergangen, seitdem die junge Frau Rielle Lazuli aus ihrer Heimatstadt Fyre verbannt und vom Engel Valhan begnadigt wurde. Inzwischen hat sie sich im Land Schpeta gut eingelebt und macht in der Stadt Doum eine Ausbildung zur Weberin. Der Bürgerkrieg erschwert zwar ihre Lebensbedingungen, aber sie hat zumindest eine gute Freundin gefunden. Eines Tages besucht sie in der Werkstatt überraschend der Engel Valhan in Begleitung zweier Priester. Er bittet sie, sie in seine Welt zu begleiten, um dort als Künstlerin tätig zu sein. Als ehemalige Priesterschülerin ist dies für sie eine große Ehre und sie willigt ein. Und so reist Rielle das erste Mal in ihrem Leben in eine Parallelwelt, wo sie auf den weiblichen Engel Inekera trifft. Dass diese Frau Rielle gegenüber nicht freundlich gesinnt ist, begreift sie jedoch zu spät und gerät so in eine lebensbedrohliche Situation.
Cover
Das Cover ist dem Vorgängerband stilistisch sehr ähnlich. Vor schwarzem Hintergrund steht wieder eine illustrierte Magierin in einem weiten Gewand, deren Gesicht durch die Kapuze nur teilweise erkennbar ist. Auf dem Grund unter ihr sind fünf magische Zirkel, ein großer und vier kleine sowie verschiedene Mondzeichen und leuchtende Punkte. Vor der Magierin schwebt ein aufgeschlagenes Buch, aus dem sich Lichtschliere zu den Händen der Magierin bewegen. Dabei hält sie den rechten Arm nach oben, während sie den linken neben ihrer Hüfte hält. Der Grundton der Illustration ist Gelbgold. Das Falten werfende Gewand mit den weiten Ärmeln hat diese Farbe, genauso wie die lichtspendende Magie. Insgesamt ist auch dieses Cover mit dem eintönigen Hintergrund auf den ersten Blick schlicht, entfaltet aber bei näherer Betrachtung seine Schönheit. Dennoch gefällt mir das erste Cover wegen seiner Farbgebung minimal besser.
Kritik
„Als
Betzi – angeblich mit Kopfschmerzen – früher als alle anderen zu
Bett ging, wusste Rielle, dass sie etwas im Schilde führte.“, ist
der erste Satz des ersten Kapitels. Auch diejenigen, die „Die
Begabte“ gelesen haben, werden darüber etwas stutzen, denn wer
bitte ist Betzi? Betzi ist eine Kollegin und Freundin von Rielle, die
eine heimliche Liebesbeziehung mit einem Soldaten führt. Dies weiß
man jedoch noch nicht, wenn man als Leser frisch in das Buch
einsteigt. Rielle ist neben Tyen eine Protagonistin, die ihre
Geschichten aus der personalen Erzählperspektive schildert. „Der
Wanderer“ ist mit fast genau 700 Seiten wie der Vorgänger keine
zügig gelesene Lektüre. Wieder ist das Buch in Teile unterteilt, in
der sich die beiden Protagonisten abwechseln, dieses Mal in zehn,
wobei der letzte Teil bloß ein zu lang geratener Epilog ist. Im
Gegensatz zum ersten Band beginnt hier Rielle die Geschichte
einzuleiten. Auch die 45 Kapitel werden wieder pro Protagonist
aufgezählt, und nicht insgesamt, wobei Rielle mit 24 Kapiteln dieses
Mal etwas mehr Raum einnimmt als Tyen. Die Geschichte ist wie eine
Münze: es gibt zwei Seiten, die sich augenscheinlich nicht berühren
und die man nicht gleichzeitig betrachten kann, sondern immer nur
abwechselnd. Allerdings gibt es hier zunehmend einen Schnittpunkt:
beide begegnen derselben Figur, einem mächtigen Zauberer, der durch
die Welten reist. Somit ist also auch klar, dass Tyen und Rielle zwar
nicht in derselben Welt, jedoch in derselben Zeitachse leben, was aus
„Die Begabte“ noch nicht hervorgegangen ist.
Schnell wird
deutlich, dass zwischen dem ersten und zweiten Band fünf Jahre
vergangen sind, weshalb sich viel verändert hat. Rielle Lazuli ist
die Tochter einer wohlhabenden Färberfamilie aus der Wüstenstadt
Fyre und inzwischen Anfang 20. Sie war Priesterschülerin, bis sie
sich in den Maler Izare Saffre verliebte und bei ihm einzog. Rielle
hat einen gebräunten Hautton, schwarze Haare und gilt allgemein als
hübsch. Obwohl es in ihrer Welt verboten ist, Magie zu nutzen, lässt
sie sie auf sich anwenden, um eine ungewollte Schwangerschaft zu
verhindern. Als sie selbst bei der Anwendung erwischt wird, gilt sie
als Befleckte und muss in einem Bußgang aus der Stadt vertrieben
werden. Im ersten Band hatte ich mit Rielle so meine Probleme. Sie
ist zwar klug, aber auch leichtsinnig und naiv. Besonders auffällig
ist dies, als sie in „Die Begabte“ versucht ein Kind von Izare zu
bekommen, damit ihre Eltern einer Heirat einwilligen müssen, um
Schande von der Familie abzuwenden, denn Fyres Kultur ist extrem
konservativ. Für sie ist das Kind nur Mittel zum Zweck, um ihren
Willen zu bekommen. Mehrfach betont sie, dass sie eigentlich kein
Kind möchte, aber dies ihre einzige Chance zu sein scheint, bei
ihrem Geliebten bleiben zu können. Doch ein Kind als Druckmittel zu
verwenden, ohne die daraus resultierende Verantwortung tragen zu
wollen, ist egoistisch und verwerflich, weshalb ich Rielle anfangs
wenig abgewinnen konnte. Man merkt aber schnell, dass sie in den
vergangenen fünf Jahren reifer, selbstständiger und erwachsener
geworden ist. Der Charakterwandel ist deutlich spürbar, auch ihre
Haltung zur Religion ändert sich. Als sie in anderen Welten Menschen
begegnet, die ihr erzählen, dass sie nichts von Engeln wissen und
die Benutzung von Magie auch nicht verboten ist, beginnt sie an ihrem
Glauben zu zweifeln, auch wenn sie ihn nicht völlig verwirft.
Dennoch klammert sie sich für meinen Geschmack zu lange an ihren
Glauben, obwohl es zunehmend Beweise dafür gibt, dass sie sich irrt.
Deswegen finde ich Rielle in Ordnung, Tyen aber weiterhin
cooler.
Auch dass Canavan sich traut, Beziehungen in die Brüche
gehen zu lassen, ist eine gute Abwechslung. Viel zu oft wird in
Büchern der erste Partner romantisiert. Die erste Liebe ist fast
immer die richtige. Damit wird hier gebrochen. Nach fünf Jahren der
erzwungenen Trennung denkt Rielle nur noch selten an Izare und
scheint den Kummer überwunden zu haben. Sie zieht sogar in Erwägung,
sich auf einen anderen Mann einzulassen. In Tyens Erzählstrang ist
es Sezee, die sich in den jungen Mann verliebt, der ihre Gefühle
jedoch nicht erwidert. Mit gebrochenem Herzen trennen sich dann ihre
Wege, da ihre Reise in eine andere Richtung weitergeht. Dass nicht
jede Liebe hält oder erfüllt wird, ist eine wichtige Botschaft, die
es in Büchern viel häufiger geben sollte.
Da die Protagonisten
nun das Reisen in Parallelwelten beherrschen, bringt dies einen neuen
Twist in die Geschichte. Sie ist unvorhersehbarer, da man nie weiß,
wie lange jemand in einer Welt verweilen wird, und ob sie jemals
wieder zurückkehren. Die Welten bieten viel Abwechslung. Es gibt
immer wieder andere Landschaften, Kulturen, Lebensbedingungen und
Tiere. So folgt man den Protagonisten erst durch eine Sandwüste,
taucht dann in einen humiden Wald, um als Leser anschließend in
einer Eishöhle zu stehen, deren Wände vor Kristallen nur so
glitzern. Durch die schnellen Wechsel zieht auch das Tempo an.
Nebenfiguren, an die man sich gerade gewöhnt hat, sterben oder
verlassen die Welt der Protagonisten.
Stilistisch hat sich nicht
viel verändert. Störend ist immer noch Canavans repetitive Floskel
„die Achseln zucken“, die teilweise einmal pro Seite auftaucht
und einem wirklich an den Nerven sägen kann.
Über das Ende werde
ich nicht allzu viel verraten. Es wird jedoch deutlich, dass Tyen und
Rielle sich räumlich immer näher kommen, vielleicht sogar bald eine
gemeinsame Mission haben werden. Ich bin gespannt, wohin die Reise
noch führen wird und ob sie gegen einen gemeinsamen Feind kämpfen
werden.
Fazit
Insgesamt ist „Der Wanderer“ von Trudi Canavan für mich nicht einfach zu beurteilen. Einerseits ist die Geschichte unterhaltsam, vielschichtig und unvorhersehbar. Es macht Spaß, mit den Protagonisten von Welt zu Welt zu wandern und die bunte Vielfalt zu erleben. Man spürt hier Canavans Liebe zum Detail sehr. Andererseits ist durch die Floskeln das Werk sprachlich eher unausgereift sowie Rielle streckenweise unsympathisch. Außerdem konnte mich der zweite Band der Reihe „Die Magie der tausend Welten“ nicht wirklich fesseln. Es mag auch an meiner Klausurenphase und den vielen Seiten liegen, aber ich habe für dieses High Fantasy-Buch etwa einen Monat gebraucht. Für mich war das Buch also auch leider kein Pageturner. Deswegen gebe ich auch dem zweiten Band aus dem Jahr 2015 drei von fünf Federn. Ich hoffe, dass der dritte Band „Die Mächtige“ etwas mehr punkten kann.