Der Fänger im Roggen

Der Fänger im Roggen
30. April 2022 0 Von lara

Ein Klassiker ohne Klappentext

Meine vierte April-Rezension 2022

Im Rahmen eines Uni-Seminars musste ich „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger lesen, also konnte ich dies direkt mit einem Beitrag für den Blog verbinden. Der Adoleszenzroman erschien 1951 und wurde zeitweise in vielen Bundesstaaten der USA zensiert. Inzwischen gilt er allerdings als Literaturklassiker und ist, vor allem in den USA, eine gängige Schullektüre. Zusätzliche Furore machte der Roman 1980, als ein Exemplar in der Manteltasche von Mark David Chapman gefunden wurde. Bei seiner Gerichtsverhandlung gab er an, das Buch hätte ihn zum Mord an John Lennon inspiriert. Interessant ist auch, dass „Der Fänger im Roggen“ der einzige Roman von Salinger bleibt.

Inhalt

Die Handlung ist bei „Der Fänger im Roggen“ sekundär, denn es geht hier vielmehr um die Psyche des Protagonisten. Deswegen verzichtet der Verlag hier auf einen Klappentext, zumal der Inhalt ohnehin grob bekannt sein sollte. Trotzdem ein kurzer Abriss: Der 17-jährige Holden Caulfield befindet sich in einem Sanatorium in Behandlung. Dort blickt er ein Jahr zurück auf drei sehr prägende Tage seines Lebens kurz vor Weihnachten. Es ist das vierte Mal, dass er von einem Internat geflogen ist. Aus Angst davor, zu seinen Eltern zurückzukehren, die von der Hiobsbotschaft noch nichts erfahren haben, streift er auf der Suche nach Sinn und Orientierung durch Manhattan. Er versucht dabei, sich selbst und seinen Platz in der Gesellschaft zu finden.

Cover

Selten habe ich ein so schlichtes Cover gesehen wie dieses. Es ist einfach nur ein leeres Blatt Papier, von dem oben horizontal ein Stück abgerissen ist, sodass man dahinter – Überraschung – ein weiteres weißes Blatt bestaunen kann. Auch wenn dies ein Klassiker ist, hätte ich mir doch ein anschaulicheres Cover gewünscht, beispielsweise eine alte Skyline von Manhattan, eine rote Jagdmütze, die der Protagonist gerne trägt, oder ein Roggenfeld, durch das zwei Personen laufen. Irritierend ist auch die Rückseite des Buches, die das Cover lediglich spiegelverkehrt abbildet, inklusive der Titelschrift.

Kritik

„Wenn ihr das wirklich hören wollt, dann wollt ihr wahrscheinlich als Erstes wissen, wo ich geboren bin und wie meine miese Kindheit war und was meine Eltern getan haben und so, bevor sie mich kriegten, und den ganzen David-Copperfield-Mist, aber eigentlich ist mir gar nicht danach, wenn ihr’s genau wissen wollt.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels. Keine Sorge, die Sätze bleiben nicht so verschachtelt, aber aus dem ersten Satz lässt sich schon viel lesen. Erstens: Der Protagonist erzählt aus der Ich-Perspektive im Präsens, wenn auch meist retrospektiv. Zweitens: der Protagonist spricht die Leser direkt an und durchbricht damit, nicht nur einmal, die vierte Wand. Drittens: Es gibt sofort eine Referenz auf den Roman „David Copperfield“ von Charles Dickens aus dem Jahr 1850. Und viertens, aber das ist dem Leser noch nicht bewusst, lernt man hier schon ein paar von Holdens repetitiven Floskeln, wie „und so“ sowie „wenn ihr’s genau wissen wollt“, kennen. Er berichtet von drei Tagen aus seinem Leben in über 250 Seiten und 26 Kapiteln.
Holden Caulfield ist, auf den ersten Blick, ein recht gewöhnlicher US-amerikanischer Junge, der auf ein elitäres Internat geht. Sein Vater ist ein wohlhabender Anwalt, weshalb es ihm finanziell recht gut geht. Sein Zuhause liegt in New York, wo seine Eltern und seine jüngere Schwester Phoebe leben. Sein älterer Bruder Daniel ist bereits ausgezogen, sein jüngerer Bruder Allie ist an Krebs verstorben. Es gibt keine genaue Beschreibung von Holdens Aussehen, man erfährt aber, dass er für sein Alter recht groß, aber eher dünn sei und dass er einen Bürstenhaarschnitt trägt. Holden ist ein unfassbar ambivalenter Charakter. Einerseits hasst er „verlogene“ Menschen, so straft er Oberflächlichkeiten, Heucheleien und Affektiertheit mit Verachtung. Andererseits ist er ein notorischer Lügner, der den Personen, die er begegnet teilweise haarsträubende Märchen erzählt. Das ist jedoch nicht das einzig ambivalente an ihm. Erst bemitleidet er Leute in einem Café, die sich augenscheinlich kein üppiges Frühstück leisten können, dann belächelt er einen ehemaligen Mitschüler dafür, dass seine Familie sich nur billige Koffer leisten kann. Er erzählt einem Mädchen, dass er sie liebt und denkt kurz darauf, dass er sie hasst. Diese nahezu schmerzhafte Ambivalzenz ist wirklich schwer zu ertragen, und ich hatte nicht selten das Gefühl, dass Holden manisch-depressiv ist. Das würde auch seinen verschwenderischen Umgang mit Geld und seine wechselhaften Entscheidungen erklären. Erst hat er Lust in ein Museum zu gehen, kurz vor dem Eingang ist ihm aber plötzlich nicht mehr danach. Außerdem würde es erklären, warum Holden mit 17 Jahren Patient in einem Sanatorium ist. Es ist mir bewusst, dass Holden ein Jugendlicher in einer Identitätskrise sein soll, aber er ist zu allem Überfluss auch noch ein Dummkopf. Es ist echt belastend, einen spätpubertären Idioten über 250 Seiten lang beim Denken verfolgen zu müssen. Ich hatte nicht selten Lust, Holden eine Ohrfeige zu geben. Andererseits empfinde ich sein psychotisches Verhalten teilweise als beängstigend. Holden als verstörender und maximal ambivalenter Charakter ist also schon einmal der erste große Minuspunkt.
Auch der Schreibstil hat mich auf Dauer echt wahnsinnig gemacht. Da Holden aus der Ich-Perspektive berichtet, gibt er lediglich seine Gedanken in einer so ungeordneten Art und Weise wieder, als würde er gedankenlos vor sich hin sprechen. Dabei benutzt er eine Jugendsprache, die völlig antiquiert ist. Begriffe wie „heiß“ für erregt oder „Puppe“, beziehungsweise „Schnecke“ für eine hübsche Frau, werden heute, wenn überhaupt, nur noch scherzhaft von Machos gesagt. Vor allem aber die repetitiv verwendeten Floskeln wie „und so“, oder „was weiß ich“ oder „das machte mich fertig“ oder „wenn ihr’s genau wissen wollt“ oder „Herrgott“ oder „piefig“ oder „oder so was“ oder „der gute“, beziehungsweise „die gute“ im Zusammenhang mit einer Person, die Holden nicht zwingend als gute Person sieht, zum Beispiel „der gute Maurice“, „die gute Sally“ und so weiter. Dabei werden die Wiederholungen bis an die Spitze getrieben. Teilweise habe ich „und so“ sechs Mal auf einer Seite gefunden, „der gute“ oder „die gute“ immerhin fünf Mal. Das macht den Roman stilistisch wirklich schwer erträglich, oder wie Holden sagen würde: „das machte mich fertig“. Holden wirkt dadurch nur noch mehr wie ein Hohlkopf, dabei geht es auch anders, wie „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf eindrucksvoll belegt. Bei „Der Fänger im Roggen“ wird sich lediglich an eine Jugendsprache angebiedert, die heute nur noch veraltet wirkt.
Auch thematisch ist der Roman wirklich schlecht gealtert. Was damals noch für Aufruhr gesorgt hat, holt heutzutage wirklich niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Dass Holden zum Beispiel sagt, er gehe nicht gerne in die Kirche und er sei sogar Atheist, schockt maximal noch irgendwelche strenggläubigen Katholiken, aber vor allem in Deutschland kaum jemanden. Das ist aber nicht das Einzige, was in die Jahre gekommen erscheint. Vereinzelte Begriffe wie „Squaw“ oder „Eskimo“ sind heute nicht mehr politisch korrekt. Primär „schwul“, „schwuchtelig“, „Warmer“ oder „Homo“ als Beleidigung, hat einen faden Beigeschmack.
Immerhin lässt sich „Der Fänger im Roggen“ leicht und schnell lesen. Die Sprache ist stellenweise bildhaft und vereinzelte rhetorische Mittel, wie Holdens Jagdmütze als Symbol, sind gelungen. Warum der Roman jedoch diesen merkwürdigen Titel hat, wird zwar erklärt, ist im Grunde genommen aber unnötig verwirrend und kryptisch.
Das Ende kommt relativ abrupt, es gibt keinen runden Abschluss oder ein spannendes Finale. Aber damit sollte man bei einem Adoleszenzroman auch nicht rechnen, ist es doch typisch, dass identitäre Fragen letztendlich nicht beantwortet werden.

Fazit

Insgesamt ist „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger schlecht gealtert. Ein ambivalenter und unsympathischer Antiheld als Protagonist mit einem unnötig ermüdenden Schreibstil sowie antiquierter Jugendsprache, gemischt mit politischer Inkorrektheit und einer Polarisation, die schon längst an Intensität eingebüßt hat, macht den Roman kaum noch lesenswert. Es ist nie verkehrt einen Klassiker zu lesen, doch „Der Fänger im Roggen“ wird sich nicht bei meinen Favoriten einreihen. Ich habe auch nicht verstanden, wieso dieser Adoleszenzroman zu einem Mord anstiften soll, wie Chapman es empfunden hat. Allerdings glaube ich, dass mein Hauptproblem war, dass Holden schwer erträglich ist. Kindisch, verantwortungslos, sprunghaft, dumm und vielleicht sogar psychotisch. Wer sich jedoch mit ihm identifizieren kann, und das können erstaunlicherweise einige, wird wahrscheinlich mehr Freude an diesem Klassiker haben. Da es zwischendurch kleinere Lichtblicke gibt, gebe ich dem Adoleszenzroman gerade noch zwei von fünf Federn.