Eigentlich nicht mein Genre
Faktastischer November 2021
Zu Beginn des Novembers fällt mir immer auf, dass das Jahr so gut wie vorüber ist, und dass ich mir dringend Gedanken über die Weihnachtsgeschenke machen sollte. Gedanken musste ich mir dieses Mal aber auch über etwas anderes machen, nämlich das Thema der Bloggeraktion „Faktastisch durch das Jahr“ von Our Favorite Books. Dieses lautet nämlich „Eigentlich nicht mein Genre – Ich habe dieses Buch trotzdem geliebt“. Spontan fiel mir da schon ein Titel ein, aber um sicher zu gehen, dass ich keines vergesse, habe ich in meinem Archiv gestöbert.
Hier auf meiner Homepage findet man zahlreiche Rezensionen. Bisher sind es über 100 Stück. Dabei habe ich 14 Mal alle fünf Federn des Bewertungssystems vergeben, sprich diese Bücher habe ich geliebt. Darunter sind Jugendbücher wie „Die Auswahl“ von Ally Condie, „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf oder „Die Insel der besonderen Kinder“ von Ransom Riggs. Außerdem sind viele Fantasybücher dabei wie zwei Bände von „Das Lied von Eis und Feuer“ von George R.R. Martin oder zwei Bände der Harry Potter-Saga. Dazu gibt es Bücher, die nicht ganz in das Raster fallen, die ich aber kategorisch nicht als „nicht mein Genre“ bezeichnen würde wie die Sachbücher von Michael Tsokos, Florian Illies oder Douglas Adams. Zwei Bücher sind mir bei meiner Stöberrunde jedoch aufgefallen, deren Genre ich entweder so gut wie nie lese, oder wenn ich es tue, schnell merke, dass mir das Buch aufgrund des Genres eher nicht zusagt. Diese zwei Bücher möchte ich also gerne nochmal vorstellen und erläutern, warum sie mich so begeistern konnten.
Das erste Buch ist den Entwicklungs- oder Künstlerromanen zuzuordnen, lässt sich aber durch Genres nicht wirklich in eine Schublade stecken. Es ist „Das Parfum“ von Patrick Süskind. In der Geschichte begleitet der Leser den Protagonisten Jean-Baptiste Grenouille von seiner Geburt am 17. Juli 1738 bis zu seinem Tod. Sein Lebensziel, der größte Parfümeur aller Zeiten zu werden, erreicht er mit einer ausgezeichneten Nase und dem Duft junger Frauen, die er für diesen Zweck ermordet. Was mich bis heute an diesem Roman extrem fasziniert, ist dessen Vielschichtigkeit. Die Wahrnehmung des Erzählers bewegt sich auf einer olfaktorischen Ebene und erst dann auf einer optischen. Die Gerüche dominieren alles, sie übertünchen Farben oder Klänge als wäre die Nase das wichtigste Sinnesorgan. Auch die komplexe Persönlichkeit Grenouilles hat mich tief in ihren Bann gezogen. Um aus meiner eigenen Rezension zu zitieren: „Er ist gleichermaßen Wunderkind wie Scheusal, einfach wie komplex und wird vom Leser mit ausgeglichener Faszination und Ablehnung verfolgt.“ Dass ich dieses Buch nach wie vor in so guter Erinnerung habe, bestärkt mich eigentlich nur darin, häufiger Klassiker der Literaturgeschichte zu lesen, anstatt immer nur einen Blick auf die Neuerscheinungen zu werfen. Denn um „Das Parfum“ abschließend noch einmal in einen Satz zu fassen: „Es strotzt nur so vor Bildgewalt, Rhetorik und Interpretationsmöglichkeiten“.
Das zweite Buch ist dagegen ganz anders als das Parfum, trotzdem hat es eine genauso gute Kritik erhalten. Dieser Roman ist tatsächlich der erste Liebesroman gewesen, den ich überhaupt gelesen habe, und er ist eingeschlagen wie eine Bombe. Wenn man daraus deuten mag, dass Liebesromane doch das Richtige für mich sind, hat man allerdings weit gefehlt. Die anderen Werke aus diesem Genre konnten mich bei Weitem nicht so begeistern, wie es 2017 „Ein ganzes halbes Jahr“ von Jojo Moyes konnte. Protagonistin ist die 26-jährige Louisa Clark, die mit ihrer Familie im englischen Dorf Stortfold lebt. Als sie ihren Job in einem Café verliert, reißt dies nicht nur ihr, sondern ihrer ganzen Familie finanziell den Boden unter den Füßen weg. Notgedrungen nimmt sie eine außergewöhnlich gut bezahlte Stelle als Pflegehelferin an, doch mit dem Patienten William Traynor kommt sie anfangs kein bisschen zurecht. Ganz ehrlich, der Plot klingt erst einmal nach dem typischen Plot eines Liebesromans: Die Protagonistin ist ein ziemliches Mauerblümchen, meist bildungsfern, aus sozial oder finanziell heiklem Umfeld. Er ist ein umwerfend gutaussehender Kerl, der nicht nur wohlhabend und erfolgreich, sondern obendrauf ein echter Womanizer ist. Die beiden treffen anfangs zufällig aufeinander und können sich ganz und gar nicht leiden. Sie ist zu unscheinbar, er zu arrogant. Doch dann führt das Schicksal sie ein zweites Mal zusammen und sie verlieben sich langsam, aber umso heftiger ineinander. In der zweiten Hälfte des Romans folgt ein riesengroßer Streit, der häufig nur auf einem albernen Missverständnis basiert. Fast trennen sich ihre Wege, doch dann fasst sich noch jemand ein Herz und es wird sich versöhnt. Küsschen, Hochzeit, Happy End!
Ja, diese ernüchternde Erwartungshaltung hatte ich anfangs auch, aber wenn man nach einer banalen Geschichte sucht, ist man mit „Ein ganzes halbes Jahr“ schlecht beraten. Da der Liebesroman 2015 erschienen ist, werde ich ab jetzt spoilern, deshalb sollte jeder, der das Buch noch lesen möchte, nun zum letzten Absatz springen. Ich war überrascht, wie gut Moyes medizinisch recherchiert hat, um das Krankheitsbild der Tetraplegie unverblümt und akkurat darzustellen. Dass so eine schwerwiegende Grunderkrankung einen Rattenschwanz von Folgeerkrankungen sowie fast pausenlose Schmerzen hinter sich herzieht, ohne weder zu bagatellisieren, noch zu dramatisieren, ist Moyes außerordentlich gut gelungen. Die Figuren haben Tiefgang und der Plot driftet nie in einen albernen Kitsch ab. Wills Leidensweg ist nachvollziehbar. Die Entscheidung, sein Leben mit aktiver Sterbehilfe zu beenden, hat mich beim ersten Mal völlig geschockt, wenn auch nicht unvorbereitet getroffen. Die Liebesgeschichte hallte noch lange nach. Ich hatte Schwierigkeiten, nach diesem Buch in den Plot des nächsten zu finden. Außerdem habe ich einen zusätzlichen Artikel mit acht Diskussionsfragen über das Werk veröffentlicht. Was man aus „Ein ganzes halbes Jahr“ verinnerlichen sollte, ist dass es auf der Welt eine Sache gibt, die für ein glückliches Leben wahrscheinlich noch wichtiger ist als die Liebe: Gesundheit. Und dass man diese von heute auf morgen verlieren kann, denn sie ist ein Privileg und keine Selbstverständlichkeit.
Somit haben es zwei ganz verschiedene Bücher geschafft persönliche Lesehighlights zu werden, obwohl sie eigentlich nicht mein Genre sind. Doch vielleicht konnten sie auch gerade deswegen punkten, weil ich dieses Genre so selten anrühre, und damit nicht schon gefühlt zehn Geschichten gelesen habe, die nach einem ähnlichen Schema verlaufen. Abwechslung macht ein erfülltes Leseleben für mich ohnehin aus. Deswegen ist mein Tipp an euch: Traut euch, euch auch mal in der Buchhandlung in einer Ecke umzusehen, in der ihr sonst eher weniger steht. Kauft nicht immer nur Neuerscheinungen, sondern auch mal gebrauchte Bücher und Klassiker der Weltliteratur. Kommt aus eurer Komfortzone heraus. Es lohnt sich!