Die Zeichen des Todes

Die Zeichen des Todes
1. August 2021 0 Von lara

Neue Fälle vom Rechtsmediziner

Meine August-Rezension 2021

2017 habe ich in meinem Nikolaussäckchen „Die Zeichen des Todes“ von Michael Tsokos gefunden, nachdem ich 2016 bereits den Doppelband „Dem Tod auf der Spur / Der Totenleser“ und „Die Klaviatur des Todes“ gelesen und rezensiert hatte. Prof. Dr. Michael Tsokos ist Rechtsmediziner an der Berliner Charité und Autor zahlreicher Sachbücher sowie True Crime-Thriller. Endlich bin ich also dazu gekommen sein viertes Sachbuch über echte rechtsmedizinische Fälle zu lesen. Zur Überbrückung hatte ich schon 2019 die erste Staffel des gleichnamigen Podcasts gehört, inzwischen gibt es zwei weitere Staffeln. Anfang diesen Jahres wurde außerdem die Sendung „Obduktion – Echte Fälle mit Tsokos und Liefers“ auf einer Streaming-Plattform veröffentlicht, die ich selbst noch nicht gesehen habe, sodass auch weniger bibliophile Menschen auf ihre Kosten kommen.

Inhalt

Nach der Wahlniederlage der Piratenpartei im September 2016 erhält die Parteizentrale in Berlin einen Abschiedsbrief von Gerwald Claus-Brunner, einem Mitglied des Abgeordnetenhauses. In diesem Brief steht, er habe Suizid begangen. Seine Parteimitglieder sollen die Polizei benachrichtigen und mit den beigelegten Schlüsseln seine Wohnung betreten. Als die Polizei dort ankommt, finden sie aber nicht nur die entkleidete Leiche Claus-Brunners umringt von Abfall und Sexspielzeugen, sondern im anliegenden Zimmer eine weitere nackte Leiche eines jungen Mannes, deren Verwesungszustand bereits weiter fortgeschritten ist. Wer war dieser Mann und warum lag er in dieser Wohnung?
Im Juni 2000 wird ein sechsjähriger Junge in Hamburg von zwei Kampfhunden bestialisch zerfleischt und verstirbt. Da diese Hunde jedoch zwei verschiedene Halter haben, muss juristisch geklärt werden, welcher Hund dem Jungen den tödlichen Biss versetzt hat. Doch wie kann man dies herausfinden, wenn die Gewebefetzen des Kindes in einem Radius von 30 Metern verteilt sind? Wie kann man solch ein Gemetzel rekonstruieren?
Im März 2012 behauptet ein Zahnarzt aus dem Raum Potsdam, dass er kurz nach Feierabend von zwei jungen Männern überfallen wurde, die ihm mit einer Gartenschere den Zeigefinger amputiert haben. Im Verlauf der polizeilichen Ermittlungen verstrickt der Mann sich jedoch immer mehr in Widersprüchen. Hat der Mann sich vielleicht selbst den Finger abgetrennt? Doch wieso sollte er das tun?
Diese und viele weitere Fälle klärt Tsokos in seinem Sachbuch auf. Das Unglaubliche an diesen skurrilen Geschichten ist, dass sie sich tatsächlich so in Deutschland ereignet haben.

Cover

Das Cover reiht sich bei seinen Vorgängern wie „Dem Tod auf der Spur“ oder „Der Totenleser“ ein, indem Tsokos selbst abgebildet ist. Er hockt hinter einem blanken Untersuchungstisch aus Edelstahl, auf dem auch Leichen während einer Obduktion liegen. Tsokos trägt einen blauen Kasack, der seine Arbeitskleidung ist, und blickt ernst in die Kamera. Auf dem Tisch liegt ein Schädel, der mulitple Frakturen aufweist. Wahrscheinlich ist dies ein echter menschlicher Schädel, dessen Besitzer Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist. Die Fotografie nimmt jedoch nicht das gesamte Cover ein, besteht das untere Drittel bloß aus einem dunkelblauen Querstreifen. Im Hintergrund lassen sich noch vage links ein Fenster erkennen, gekachelte Wandfliesen und ein Spülbecken. Das Cover gefällt mir gut. Tsokos ist inzwischen ein bekanntes Gesicht in Deutschland, der auch immer wieder in Talkshows auftritt. In Kombination mit dem Schädel, dem Kasack und dem Untersuchungstisch ist eindeutig, worin es in diesem Buch geht.

Kritik

„Willkommen zurück in meiner Welt, der Welt der Rechtsmedizin.“, ist der erste Satz des Vorwortes, in dem Tsokos seine Leser begrüßt und sogar persönlich anspricht: „verehrte Leserin und verehrter Leser“. Er erklärt, worin es in diesem Sachbuch grob geht und dass alle diese Fälle sich tatsächlich so zugetragen haben. Außerdem hält er fest, dass die Todesursachen einer Nation stets ein Spiegel dieser Gesellschaft seien.

Tsokos erzählt seine Fälle aus der Ich-Perspektive im Präsens, aber natürlich meist retrospektiv. In fast 350 Seiten packt er ein Vorwort, zwölf Kapitel und Fälle, sowie ein Nachwort. Der erste Fall handelt von Gerwald Claus-Brunner, einem Politiker der Piratenpartei, dessen Suizid 2016 Schlagzeilen machte. Dass hinter dem Motiv seiner Selbsttötung viel mehr als nur eine Wahlniederlage steht, wurde erst in den darauffolgenden Tagen bekannt. Der gesamte Fall sowie die Person dahinter sind sehr skurril. Ebenfalls außergewöhnlich ist, dass Tsokos dem hünenhaften Mann tatsächlich einmal persönlich begegnet ist, um ihn ironischerweise fünf Jahre später auf seinem Seziertisch wiederzusehen. Der Rechtsmediziner äußert zudem, dass er den Toten damals anmaßend und unsympathisch fand. Dabei lässt sich Tsokos eher selten zu solch ablehnenden Aussagen hinreißen.

2019 habe ich die erste Staffel von Tsokos‘ Podcast „Die Zeichen des Todes“ gehört, in der er auch seine echten Fälle schildert. Generell kann ich diesen True Crime-Podcast auch sehr empfehlen, leider greift Tsokos hier aber ausschließlich auf Fälle zurück, die er auch in seinen Sachbüchern vorstellt. Deswegen waren mir einige Fälle schon aus seinen älteren Büchern bekannt, die anderen stammen aus diesem Buch, weshalb ich mich teilweise leider selbst gespoilert habe. Fälle wie „Just hanging around“ oder „Versalzen“ waren also keine Überraschung mehr. Nicht nur in seinem Podcast, sondern auch in der Sendung „Dem Tod auf der Spur“, die 2017 wöchentlich auf Sat.1 lief und nach wie vor streambar ist, verwendet Tsokos dieselben Fälle. Der Fall „Das Skelett auf der Rückbank“ wurde sogar in allen drei Formaten vorgestellt. Aus Tsokos‘ Perspektive ist das verständlich: Seine Bücher verkaufen sich gut, warum sollte er also nicht über andere Kanäle noch mehr Interessenten erreichen? Die Geldkuh muss schließlich gemolken werden.
Was mich ebenfalls gestört hat, war dass Tsokos sich seit „Die Klaviatur des Todes“ immer mehr vom Schreibstil des mysteriösen Rästels wegbewegt, sondern inzwischen viel auf die sozialen und persönlichen Hintergründe von Opfer oder Täter eingeht. Dabei wird es oft psychologisch. Außerdem beschreibt Tsokos Gerichtsverhandlungen und Polizeiermittlungen mit Befragungen viel ausführlicher als noch in den ersten Büchern. Für mich ist das der uninteressantere Part der Fälle, welche dadurch zu sehr in die Länge gezogen werden. Denn es ist letztendlich unwichtig, ob die Ermittler den Psychiater telefonisch nicht erreichen konnten, der dann einen Tag später zurückruft. In den Vorgängern hat er die Ermittlungen weitestgehend ausgeklammert, das gegebenenfalls vorhandene Gerichtsurteil wurde nur kurz benannt.

Hier wird man dagegen mit Rückblenden überrollt, die das Leben des Verstorbenen ausführlich beleuchten. Die epischen Vorausdeutungen nehmen dabei zu viel vorweg, so wird oft schon verraten, dass die Hauptperson des Falls plant sich das Leben zu nehmen, bevor die Obduktion selbst beschrieben wird. Damit bleibt der Überraschungseffekt und das Miträtseln aus. Hinzu kommt, dass Tsokos sich zu häufig wiederholt, wenn er Fachbegriffe erklärt. Dass er sie kurz und präzise erläutert, ist an sich gut umgesetzt, obwohl dies mit meinem beruflichen Hintergrund und meinem Biologie-Studium oft überflüssig war. So wusste ich beispielsweise, dass Arterien viel stärker und unregelmäßiger bluten als Venen oder was die Sagittalebene ist. Doch sogar im selben Kapitel betont er mehrfach, dass Articaincarbonsäure der Hauptmetabolit von Articain ist, oder dass Epinephrin Vasokonstriktionen auslöst. Diese Wiederholungen sind auch für Laien deutlich übertrieben. Dies ist nicht nur mir, sondern auch meinem Freund aufgefallen, dem ich das Buch ausgeliehen hatte und der es bereits letztes Jahr gelesen hat.

Dennoch wirkt Tsokos immer sympathisch, wenn er irgendwo auftritt und dabei seine persönlichen Ansichten äußert. Er erscheint professionell, rational agierend und trotzdem auch humorvoll. Seinen Aussagen über Kampfhunde oder Pädophilie stimme ich absolut zu, auch wenn dies kontroverse Themen sind, bei denen die Meinungen auseinander gehen. Leider ist mir auch ein inhaltlicher Fehler im Kapitel „Baden gegangen“ aufgefallen. Dort erwähnt er kurz, dass Jim Morrison, Frontmann von The Doors, „mit gerade einmal 28 Jahren […] leblos in der Badewanne aufgefunden“ wurde. Das ist schlichtweg falsch. Jim Morrison war nämlich 27 Jahre alt, als er starb. Damit gehört er auch zum berühmten Club 27, der Musiker:innen einschließt, die meist aufgrund ihres Drogenkonsums, im Alter von gerade einmal 27 Jahren verschieden sind. An sich ist dies ein kleiner Fehler, aber gerade in einem Sachbuch ist solch ein vermeidbarer Patzer ärgerlich.

Im Nachwort betont Tsokos erneut, dass die Toten den Zustand einer Gesellschaft widerspiegeln, und vor allem in ihren unnatürlichen Todesfällen erkennbar ist, welche Probleme diese hat.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Michael Tsokos sich seit seinem Debüt „Dem Tod auf der Spur“ immer weiter von rechtsmedizinischen Aspekten wegbewegt und seine Fälle deutlich umfassender beleuchtet. Das kann man mögen oder nicht. Ich persönlich bevorzuge die medizinischen Inhalte deutlich mehr als die juristischen, weshalb ich hier im Vergleich zu den Vorgängern weniger auf meine Kosten gekommen bin. Die Bücher sind zunehmend populistischer und kommerzieller geschrieben. So wird die ausschweifende Biografie des Verstorbenen genutzt, um den Leser emotional mitzureißen, anstatt präzise und sachlich zu bleiben. Wiederholungen und Redundanzen erschweren das Ganze noch. Trotzdem hatte ich auch meine Freude an „Die Zeichen des Todes“. Ich habe das Sachbuch zügig durchgelesen und einiges dazugelernt. So weiß ich jetzt zum Beispiel, was Widerlagerblutungen oder Simon-Blutungen sind. Deswegen gebe ich dem vierten Buch über echte rechtsmedizinische Fälle aus dem Jahr 2017 drei von fünf Federn. Für Laien, die in diesem Bereich noch völlig ahnungslos, aber nicht allzu empfindlich sind, kann dieses Buch lesenswerter sein. Ob ich in Zukunft weitere Bücher von Tsokos kaufen werde, weiß ich noch nicht. In meinem Bücherregal stehen noch drei weitere True Crime-Thriller von ihm, die ich wahrscheinlich nächstes Jahr lesen werde.