Realität oder Fiktion

Realität oder Fiktion
10. Juni 2021 2 Von lara

Faktastischer Juni 2021

„Das Jahr ist schon fast wieder halb rum. Die Zeit rast!“, sagte neulich meine Nachbarin zu mir, und genauso empfinde ich es auch. Durch den langen Lockdown im Winter habe ich eindeutig den Großteil meiner Zeit in den eigenen vier Wänden verbracht. Die Tage flogen förmlich vorbei. Ich hatte jedoch das große Glück diesen Monat meine erste Corona-Schutzimpfung zu erhalten und vernehme nun einen leichten Duft von Freiheit. Wenn alles gut läuft, gehört die Pandemie bald der Vergangenheit an. Natürlich habe ich auch diesen Monat an der Bloggeraktion „Faktastisch durch das Jahr“ von Our Favorite Books teilgenommen. Im Juni lautet das Thema „Realität oder Fiktion – Was gefällt dir besser?“ Zugegeben eine Frage, die mich anfangs etwas stutzig machte.

Ich vermute, mit der Frage ist gemeint, ob man lieber Bücher liest, die in der realen Welt spielen oder eben in einer fiktiven Welt, beziehungsweise mit irrealen Einflüssen wie Magie oder Science Fiction. Als Germanistik-Studentin weiß ich aber, dass die literaturwissenschaftliche Definition von Fiktionalität eine andere ist. Fiktionale Texte sind alle, deren Inhalt nicht der Realität entsprechen oder anders formuliert: jede Geschichte, die erfunden ist. Ob es sich dabei um eine High Fantasy-Saga oder um einen Liebesroman mit Frankreich als Handlungsort handelt, ist völlig egal. Jeder Roman dieser Welt ist fiktional. Der Autor distanziert sich somit von jedem Wahrheitsanspruch. Den allermeisten Lesern ist bewusst, dass ein Roman eine erfundene Geschichte ist. In der Literaturwissenschaft bezeichnet man dies als „Fiktionalitätspakt“. Nur die wenigsten Leute versuchen im Bahnhof King’s Cross gegen die Mauer zwischen Gleis 9 und 10 zu rennen.

Aber wenn all unsere Lieblingsgeschichten erfunden und somit fiktiv sind, was ist dann das Gegenteil von Fiktion? Das Zauberwort heißt: Faktualität. Faktuale Texte sind alle, die einen Wahrheitsanspruch erheben oder einfacher gesagt: Berichte, die real so passiert ist. Dazu gehören beispielsweise Zeitungen, Sachbücher oder im weitesten Sinne Autobiografien, wobei man sich als Autobiograf die Wahrheit auch heimlich schöner schreiben kann.

Zwar habe ich auch schon Sachbücher gelesen und rezensiert, wie beispielsweise die des Rechtsmediziners Michael Tsokos. Auch die Autobiografie von Michelle Obama steht aktuell weit oben auf meiner Wunschliste, aber niemals werde ich mehr davon lesen, als von Fantasy-Büchern oder anderen Romanen. Das Lesen von Unterhaltungsliteratur ist für mich eine Möglichkeit in eine andere Welt einzutauchen. Es geht darum Geschichten zu erleben und Welten zu sehen, die man sich in der Realiät nicht einmal erträumt hätte. Es geht darum, die Welt aus anderen Perspektiven sehen zu können und seine Empathie so unbemerkt zu steigern. Es geht aber auch darum, an einem schlechten Tag, an dem einem nichts zu gelingen scheint, die Mitmenschen nerven und das Wetter bescheiden ist, die Realität abzuschalten und einen Abstecher in das Kopfkino zu machen, also Eskapismus begehen.

Ob die Welt im Buch jedoch irgendwo da draußen zu finden ist oder war oder angeblich sein wird, oder eben nicht, ist mir dabei komplett egal. Oder ob darin Figuren vorkommen, die es wirklich gegeben hat oder nicht. Ob darin Magie, Drachen, Raumschiffe mit Laserkanonen oder Einhörner in Regenbogenfarben Auftritte haben, spielt auch keine Rolle. Ich mag viele Genres und vor allem die Abwechslung, die das Wechseln der Lektüren verspricht. Aber natürlich möchte ich vor allem Dinge erleben, die ich in der realen Welt nie erleben könnte. Ich möchte auf Drachen über den Wolken fliegen, meinen eigenen Patronus beschwören, neue Galaxien entdecken, eine Geisha im alten Japan sein, für meine französische Boulangerie Zitronen-Macarons backen, neue Freunde finden oder schlichtweg ein Abenteuer erleben. Fiktionale Texte sind für mich ein Segen, denn das Leben ist zu kurz, um nur ein einziges zu leben.