Silber – Das zweite Buch der Träume
Träum weiter
Meine Dezember-Rezension 2020
Das Jahr neigt sich dem Ende zu und viele Menschen schauen gerade hoffnungsvoll auf das neue Jahr 2021. Auch für mich war es ein turbulentes Jahr mit vielen schönen, aber fast genauso vielen unschönen Momenten. Somit endet auch das Lesejahr 2020. Dieses Jahr habe ich bisher 21 Bücher gelesen und rezensiert. Meine Bewertungen waren meist gut, es gab keine große Enttäuschung, aber auch nur ein Jahreshighlight, zumindest bisher. „Silber – Das zweite Buch der Träume“ von Kerstin Gier aus dem Jahr 2014 ist nun Nummer 22. Der zweite Band der sogenannten „Silber-Trilogie“ ist dem Urban Fantasy zuzuordnen und spielt teilweise in der realen Welt und teilweise in einer Traumwelt.
Inhalt
Kaum hat sich die 16-jährige Olivia Silber, kurz Liv, in ihrer neuen Zwangsheimat London einigermaßen eingelebt, gibt es schon wieder neue Probleme. Liv und ihre jüngere Schwester Mia verstehen sich mit ihrem neuen Stiefvater Ernest zunehmend besser, doch dann lernen sie seine Mutter Philippa kennen und schnell ist ihnen klar, dass die ältere Dame ein Biest in Ocker ist. In der Schule hat Liv sich aus Versehen mit Persephone angefreundet und im Tittle-Tattle-Blog stehen Livs intimste Geheimnisse. Also muss sie schnellstmöglich herausfinden, wer Secrecy ist und wie er oder sie an so pikante Informationen kommen konnte. Mit ihrem neuen Freund Henry ist Liv eigentlich glücklich, dennoch wird sie das Gefühl nicht los, dass er ihr etwas verschweigt. Zu allem Überfluss beginnt Mia nachts nun noch zu Schlafwandeln und auch in der Traumwelt gehen selbst nach Anabels Einweisung in die Psychiatrie weiterhin merkwürdige Dinge vor sich. Für Liv bleibt also nicht einmal nachts Zeit zu Ruhen.
Cover
In der Pappschuber-Ausgabe sind andere Buchcover vorhanden, als bei den einzeln erhältlichen Büchern. Bei der Beschreibung des Covers beschränke ich mir hier aber nur auf Letzteres. Der Hintergrund ist in ein helles Türkis getaucht. Im Fokus liegt eine comicartig illustrierte schwarze Tür, zu der drei Stufen hinaufführen und die von zwei Säulen umrahmt wird. Diese Tür wirkt feudal, was sich auch am Oberlicht erkennen lässt, das mit Mosaikglas ein großes Auge bildet. Darüber sind zwei spiegelsymmetrisch angeordnete Eidechsen. Seitlich an den Säulen sind zwei in Stuck manifestierte Portraits, die einer Art Halm im Mund zu haben scheinen, an denen jeweils ein Schlüssel hängt. Durch das Glas der Eingangstür kann man mittig zwei zueinander gerichtete Silhouetten erkennen: Die einer jungen Frau mit Dutt und die eines Jaguars. Auch über der Tür sieht man das silhouettenhafte Portrait einer jungen Frau mit Dutt. Links und rechts von ihr erstreckt sich ein Paar Libellenflügel. Vor den Treppen halten ein kleiner roter und ein kleiner schwarzer Vogel ein Banner. Den Randbereich ist mit Zweigen, Blättern, Blüten, Libellen, Schlüsseln, Sternen und einer roten Eule verziert. Anhand der umfangreichen Beschreibung wird deutlich, dass hier ein liebevoll detailliertes Cover vorliegt, das typisch für dessen Illustratorin Eva Schöffmann-Davidov ist. Ich persönlich liebe ihre Illustratoren und freue mich, dass sie auch für diese Trilogie wieder verantwortlich war. Viele Inhalte des Covers, beispielsweise die Tür, der Jaguar oder die Libellen sind eng mit den Inhalten dieses Buches verknüpft und bieten einen subtilen Vorgeschmack auf die buchstäblich traumhafte Welt.
Kritik
Vor dem ersten Kapitel steht das Zitat von Walt Disney „If you can dream it, you can do it.“, zu Deutsch etwa „Wenn du davon träumen kannst, kannst du es auch machen“. Über den Wahrheitsgehalt dieses Zitates lässt sich gewiss streiten.
„Charles hatte es mir wirklich nicht schwergemacht, seine Tür zu finden: Sie war mit einem lebensgroßen Foto von ihm selber bedruckt, breit grinsend in einem blütenweißen Kittel, auf dessen Brusttasche ‚Dr. med. dent. Charles Spencer‘ stand, und darunter ‚Der Beste, den Sie für Ihre Zähne bekommen können.‘, ist der erste Satz des ersten Kapitels und damit sicher in den Top 3 der längsten Einleitungssätze diesen Jahres. Erstmals setzt der Plot hier schon in der Traumwelt ein, anstatt in der realen Welt. Der Plot setzt hier etwa zwei Monate nach dem Abschluss des ersten Bandes an, also im Dezember
Wie gewohnt erzählt die Protagonistin Liv ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive im Präteritum, lediglich unterbrochen von den Einträgen des Tittle-Tattle-Blogs, die wie eine Homepage gestaltet sind. Mit knapp über 400 Seiten und 31 Kapiteln plus Epilog ist dieser Band ziemlich genau so lang wie sein Vorgänger.
Neben Liv ist die wichtigste Figur dieses Bandes ihre kleine Schwester Mia, die zum Handlungszeitpunkt 13 Jahre alt. Sie hat lange blonde Haare, und trägt eine Brille sowie eine Zahnspange. Liv findet, dass sie ihrer Schwester sehr ähnlich sieht, im Grunde genommen sei Liv lediglich größer. Mia ist jedoch nicht nur Livs Schwester, sondern auch ihre beste Freundin. Mia ist klug, schlagfertig und manchmal etwas frech. Sie liebt Detektivgeschichten und Rätsel, gerne knobelt sie auch selber. Da sie noch jünger als Liv ist, hat sie noch kein Interesse an Jungen und belächelt ihre ältere Schwester dafür: „‚Wir sind keine hormongesteuerten Dumpfbacken, deren Gehirn nur aus rosa Zuckerwatte besteht‘“. Seit Neuestem wandelt Mia Schlaf. Das bereitet Liv große Sorgen, denn scheinbar ist es jemandem gelungen, in Mias Traumwelt zu dringen und sie zu manipulieren.
Doch wie ist die Traumwelt in dieser Geschichte aufgebaut und wie funktioniert sie? Giers fiktives Paralleluniversum der Träume könnte, nach ihrem erdachten Regelwerk, eigentlich jeder betreten. Voraussetzung dafür ist lediglich eine Veranlagung zum luziden Träumen. Dabei ist sich der Träumende bewusst, dass er schläft und dass er deshalb tun und lassen kann, was er möchte. Gleichzeitig kann er die Traumwelt auch an seine Wünsche und Vorstellungen anpassen. Einen Menschen, der zum luziden Träumen fähig ist, nennt man übrigens auch Oneironaut. Darüber hinaus gibt es in dieser Traumwelt eine Tür, durch die man, wenn man den Klartraum beherrscht, seine eigene private Traumwelt verlassen kann und einen Flur betreten kann, in dem nicht nur die eigene Traumtür, sondern auch die jener Menschen, die einem nahe stehen, aneinander gereiht sind. Wem welche Tür gehört, kann man an dessen Gestaltung erkennen. Jede Tür sieht so aus, wie der Besitzer sie sich wünschen würde. So ist Livs Tür beispielsweise grün und hat einen Messing-Türknauf in Form einer Eidechse. In der Traumwelt ist es außerdem möglich seine Gestalt nach seinen Bedürfnissen anzupassen. Man könnte sich also in eine attraktivere Version von sich selbst imaginieren, genauso wie in ein Tier, ein Fabelwesen oder sogar einen Lufthauch. Dies ermöglicht Oneironauten in die Träume ihrer Mitmenschen einzudringen, solange sie im Schlaf einen persönlichen Gegenstand des Besitzers der Tür haben, vor allem wenn diese nicht luzid träumen und so bewusst keine Sicherheitsmechanismen an ihrer Tür anbringen können.
Im Vergleich zur „Edelstein-Trilogie“ von Kerstin Gier, ist die „Silber-Trilogie“ für ein leicht älteres Publikum gedacht. Das merkt man vor allem daran, dass die aufkeimende Sexualität hier stärker thematisiert wird. Dabei geht Gier auch gut darauf ein, dass Sex ein beliebtes Gesprächsthema bei den Schülern oder Schülerinnen ist und sogar im Tittle-Tattle-Blog heiß diskutiert wird, wer noch Jungfrau ist und wer nicht. Mitunter ist der Druck sexuelle Erfahrungen zu sammeln, um mitreden zu können, in den Cliquen groß. Auch Liv ist involviert, denn sie hat seit Ende des vorangegangen Bandes mit Henry ihren ersten festen Freund. Laut eigener Aussage hatte er schon vor Liv viele Freundinnen und auch mit ihnen geschlafen. Dass er dagegen kein sexuelles Interesse an Liv zu haben scheint, beunruhigt sie zunehmend. Sie hat Angst, dass sie zu unreif, zu dünn oder schlimmstenfalls zu hässlich für Henry ist. Dies und weitere Konflikte drohen die Beziehung zu überschatten. Die stärkere Thematisierung von Sex ohne dabei explizit zu werden, hat mir gut gefallen, ich finde es jedoch nicht zwingend besser als in der unschuldigeren „Edelstein-Trilogie“. Beide Trilogien haben ihre eigenen Reize.
Qualitativ sehe ich keinen großen Unterschied zu „Silber – Das erste Buch der Träume“. Es gibt viele Themen, sodass sich die Ereignisse förmlich überschlagen und das Jugendbuch nie langweilig wird. Der Schreibstil ist locker, humorvoll und glücklicherweise etwas weniger flapsig. Die anfänglichen Fußnoten waren meiner Meinung nach überflüssig und der Plot streckenweise zu vorhersehbar.
Das Ende ist dann doch überraschend, aber auch kurz und nicht ganz so spannend wie im ersten Band. Ich denke, Gier hält das große Finale für den dritten und letzten Teil zurück.
Fazit
Mit Kerstin Giers kunterbunten, liebevollen und witzigen Jugendbüchern hat man vor allem dann stets den richtigen Griff gemacht, wenn man sich nach leichter, aber durchdachter Unterhaltung sehnt. Eine gewisse Vorhersehbarkeit und ein verhältnismäßig schwaches Ende muss man dafür in Kauf nehmen, insgesamt hält sich aber im Vergleich zum Vorgänger die Waage, weshalb ich an „Silber – Das zweite Buch der Träume“ aus dem Jahr 2014 wieder vier von fünf Federn vergebe. Natürlich werde ich nun auch noch den letzten Band der Trilogie lesen.