Es

Es
31. Oktober 2020 0 Von lara

Alles schwebt hier unten

Meine zweite Oktober-Rezension 2020

Halloween steht vor der Tür und auch wenn es dieses Jahr bedeutet keine Party feiern zu können, können wir es uns dennoch mit Horrorfilmen oder -romanen und herbstlichem Essen zuhause gemütlich machen. Ich hatte mir vorgenommen dieses Jahr den ersten Horrorroman meines Lebens zu lesen und von wem sollte dieses Buch stammen, wenn nicht vom weltweit anerkannten König des Horrors Stephen King? Nach längerer Überlegung habe ich mich für den Klassiker schlechthin entschieden: „Es“ aus dem Jahr 1986. Dieser Roman wurde inzwischen bereits zweimal jeweils zweiteilig verfilmt. 1990 wurden die ersten Verfilmungen im Fernsehen ausgestrahlt. 27 Jahre später, übrigens ein ausgeklügelter Marketing-Gag, kam der erste Teil der Neuverfilmungen mit Jaeden Lieberher und Bill Skarsgård in die Kinos. 2019 folgte die Fortsetzung „Es Kapitel 2“, in der Stephen King selbst sogar eine Gastrolle hat. Ich habe lediglich die Verfilmung aus dem Jahr 2017 gesehen, das Merkwürdige aber war, dass ich in derselben Woche eine Ausgabe des Horrorromans im örtlichen Bücherschrank gefunden habe. Das war für mich ein Zeichen das Buch mitzunehmen und es zu lesen.

Inhalt

Die fiktive US-amerikanische Mittelstadt Derry im Bundesstaat Maine hat ein düsteres Geheimnis. Alle 27 Jahre sucht ein namenloser Schrecken die Stadt heim und ermordet größtenteils Kinder. Dieser wahr gewordene Alptraum, der hinter vorgehaltener Hand wenn überhaupt nur als „Es“ bezeichnet wird, tritt meist in der Gestalt des Clowns Pennywise auf. 1957 ist es wieder soweit. Der sechsjährige George Denbrough, kurz Georgie, ist das erste Mordopfer des Horrorclowns. Sein älterer Bruder Bill, der weitestgehend als Stotter-Bill bekannt ist, schließt sich mit seinen Freunden zusammen und gründet den „Klub der Verlierer“, dessen Ziel es ist „Es“ den Garaus zu machen.

Cover

Inzwischen ist der Klassiker der Horrorliteratur bereits über 30 Jahre alt und hat im Laufe der Zeit natürlich verschiedene Cover gehabt. Das älteste kann man nicht einmal Cover schimpfen, da es lediglich eintönig rot ist.
Ein späteres und weit verbreitetes Cover hat einen grauen Hintergrund und unten einen Gulli, der teilweise blutbeschmiert ist.
Ein aktuelleres Cover zeigt das Filmplakat aus dem Jahr 2017, in dem der kleine Georgie dem Betrachter den Rücken zuwendet. Er trägt einen gelben Regenmantel und dunkelgrüne Gummistiefel. Aus den Schatten des Hintergrunds hält ihm jemand in einem weißen altmodischen Clownskostüm einen leuchtend roten Luftballon hin. Durch diesen Ballon kann man vage das Gesicht Pennywises erkennen.
Das letzte und aktuellste Cover hat einen weißen Hintergrund, der in das Gesicht des Clowns Pennywise übergeht, so wie er in den Neuverfilmungen dargestellt wird. Von den Mundwinkeln führt jeweils eine rote Linie über die gelben Augen senkrecht bis in die Stirn. Auch die Nase ist rot geschminkt und aus seinem rechten Mundwinkel fließt die rote Farbe hinab, als sei es Blut. Bis auf das erste Cover gefallen mir grundsätzlich alle, aber die beiden aktuelleren können aufgrund ihrer Detaillierung doch mehr überzeugen.

Kritik

Je nach Ausgabe und Format, schwankt die Seitenzahl des Horrorromans zwischen über 850 bis zu knapp 1550, womit das Werk nichts für Gelegenheitsleser ist. Das Buch ist in fünf Teile gespalten, deren Titel „Erste Schatten“, „Juni 1958“, „Erwachsene“, „Juli 1958“ und „Das Ritual von Chüd“ lauten, wobei der erste Teil der kürzeste und der zweite der längste ist. Insgesamt gibt es 23 Kapitel und einen Epilog.

„Der Schrecken, der weitere 28 Jahre kein Ende nehmen sollte – wenn er überhaupt je ein Ende nahm – begann, soviel ich weiß und sagen kann, mit einem Boot aus Zeitungspapier, das einen vom Regen überfluteten Rinnstein entlangtrieb.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels „Nach der Überschwemmung (1957)“ und rückt den Leser inmitten des Geschehens. Die Szene ist bei diesem Klassiker ikonisch: Der kleine Georgie läuft in seinem gelben Regenmantel lachend die Straße entlang und folgt dem Papierboot bis zu dem Gulli, in dem Pennywise schon auf ihn wartet. Noch ahnt der Junge nicht, dass er gleich auf brutale und unheimliche Art ermordet wird. Er wird nie erfahren, dass er nur der Anfang einer Mordserie an Kindern und Jugendlichen in der Stadt Derry sein wird. Auch sein Bruder Bill ahnt nicht, dass er George nie wieder lebend sehen wird.

Zwar fokussiert sich der auktoriale Erzähler im Präteritum nicht auf eine einzige Figur, die Mitglieder des Klubs der Verlierer bleiben jedoch klar die Protagonisten, allen voran Bill Denbrough. Er wurde 1948 geboren und ist zum Zeitpunkt von Georgies Tod zehn Jahre alt. Laut Beschreibung ist er ein hübscher Junge mit Sommersprossen, rotbraunen Haaren, blauen Augen und breiten Schultern. In seiner Schule ist er weitestgehend als Stotter-Bill bekannt, weil er fast immer ein wenig, in bestimmten Situationen aber auch stark stottert, wodurch er gemobbt wird und ein Außenseiter ist. Eigentlich ist Bill aber ein eloquenter Junge, der gerne Geschichten schreibt und davon träumt eines Tages Autor zu werden. Er ist das reifste aller Klubmitglieder und wird aufgrund seiner Loyalität sowie seinem Verantwortungsbewusstsein von seinen Freunden heimlich bewundert und als Anführer betrachtet. Nach Georges Tod sind nicht nur Bill, sondern ebenso seine Eltern tief schockiert. In ihrer Trauer vernachlässigen sie ihren verbliebenen Sohn und die Ehe beginnt zu bröckeln. Bills größter Schatz ist sein Fahrrad „Silver“, das ihm zwar zu groß ist, mit dem er aber enorme Geschwindigkeiten erreichen kann. Zwischen seinen Speichen stecken Spielkarten. Der Moment, in dem Bill auf dem Fahrrad sitzt, ist laut ihm der einzige, in dem er noch wirklich glücklich ist.

Zusammen mit Richie Tozier, Eddie Kaspbrak, Ben Hamscon, Stan Uris, Beverly Marsh und Mike Hanlon bildet Bill den Klub der Verlierer. Jeder von ihnen hat seinen eigenen Grund, warum er oder sie von seinen Altersgenossen nicht akzeptiert wird, was die Freundschaft untereinander aber nur verstärkt. Was sie jedoch primär vereint, ist der gemeinsame Kampf gegen „Es“. In einem Zyklus von 27 Jahren taucht „Es“ seit Jahrhunderten in der Stadt Derry auf und begeht eine neue Mordserie, meist an Kindern. Dabei ist „Es“ für niemanden dasselbe. Manche sehen in ihm einen Wasserdämon wie ein Kappa, andere ein Zombie oder einen riesigen Vogel. Die meisten sehen in ihm jedoch einen Horrorclown, der sich selbst Pennywise nennt. Doch das genaue Aussehen des Clowns variiert je nach Betrachter. Lediglich das silberfarbene Kostüm mit orangen Plüschknöpfen sehen alle an ihm. Dennoch ist dieses Monster alles andere als ein Märchen. Man kann „Es“ als Personifikation des boshaften Übernatürlichen interpretieren, das die Ängste jedes Individuums verkörpert. Um „Es“ zu bekämpfen muss jeder seiner größten Angst ins Auge sehen.

Auch wenn der „Klub der Verlierer“ aus Außenseitern besteht, die es im Schulalltag sehr schwer haben, sind sie als Erwachsene alle wohlhabende und beruflich erfolgreiche Menschen, die aus ihrem Leben mehr gemacht haben als ihre ehemaligen Feinde und Mobber, ein Muster, das man auch im realen Leben häufig wieder erkennt. Dennoch ist jeder von ihnen auf seine Art traumatisiert von seiner Begegnung mit „Es“, was jeder ganz individuell zu kompensieren versucht.

In Kings Werken sind häufig Kinder oder Jugendliche die Protagonisten, wie beispielsweise auch bei „Carrie“, was die Bücher aber natürlich nicht zur Kinderliteratur macht. Vielmehr sind Kinder der verletzlichste Teil einer Gesellschaft und die leichtesten Opfer von Gewalt und Angst, aber auch die Schützenswertesten, wodurch ein totes Kind einen größeren Horror hervorruft als ein toter Erwachsener.

Kings Schreibstil verursacht einen subtilen Horror, der sich gespenstisch über die gesamte Atmosphäre legt und Seite für Seite an Spannung zunimmt, wobei die Brutalität, nach heutigen Maßstäben, nicht im Fokus steht. Da die Geschichte im Grunde genommen aus zwei Plots mit denselben Charakteren besteht, einmal in den Jahren 1957 und 1958, sowie 27 Jahre später 1984 und 1985, die nicht chronologisch erzählt werden, entstehen viele Zeitsprünge, die beim Einstieg noch konfus wirken, sich aber im Verlauf stringent verbinden. Außerdem neigt King zu detaillierten Beschreibungen, die gerne mal auf mehrere Seiten ausschweifen. Zwar sind manche dieser zusätzlichen Informationen interessant oder atmosphärisch, manchmal verliert er sich für meinen Geschmack aber doch zu sehr in Details.

Es ist bekannt, dass King seine Werke miteinander verknüpft, indem er kurze Details oder Hinweise einwirft. So ist es bei „Es“ nicht anders. Anspielungen auf den Klassiker mit dem Horrorclown gibt es einige. In „Sara“ liest eine Frau ein Buch von Bill Denbrough, der als Erwachsener tatsächlich Autor ist. Dick Hallorann, ein Nebencharakter, taucht ebenfalls als Nebencharakter im Overlook Hotel auf, dem Handlungsort von „Shining“. In „Friedhof der Kuscheltiere“ fällt im Zusammenhang mit einem Transport von Särgen der Name der Stadt Derry.

„Es“ ist viel mehr als nur ein Horrorroman. „Es“ macht ebenso auf viele gesellschaftliche Probleme aufmerksam wie Homophobie, Rassismus, Antisemitismus, Alkoholismus, psychischen Erkrankungen, Suizide, Mobbing, Kindesmisshandlung oder häusliche Gewalt. „Es“ zeigt dem Leser nicht nur irrationale Ängste, sondern auch den wahren Horror einer modernen Gesellschaft und genauso wenig, wie man „Es“ ein für alle mal besiegen kann, bleibt auch der Kampf gegen Ungerechtigkeiten auf ewig unausgefochten.

Da die Geschichte aus zwei Plots besteht, gibt es auch zwei Showdowns, die stark von den Neuverfilmungen abweichen. Andés Muschietti, der Regisseur der Neuverfilmungen von 2017 und 2019, sagte in einem Interview, dass er das Buchende zu unausgewogen fand und der Fokus zu stark vom Klub der Verlierer als unerschütterliche Verbündete entrückt war, weswegen er das Ende in den Filmen stärker verändert hat als den Rest der Filme. Jedoch gibt es einen weiteren Grund, weshalb gerade der Film aus dem Jahr 2017 vom Ende abweichen musste. Um nicht zu spoilern, halte ich mich wie gewohnt bei den Details bedeckt. Die Rede ist von der berühmt berüchtigten Szene, mit der der Klub der Verlierer als Kinder ihre Verbundenheit untermauern, auch bekannt als die Szene, „die jeder kennt, aber von der niemand spricht.“, Zitat eines Bekannten, weil sie so provokant und pervers ist. Ich selber fand diese Szene auch verstörend und sinnbefreit. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass King zum Entstehungszeitpunkt des Horrorromans den Höhepunkt seiner Alkohol- und Kokainsucht erlebte, was zu emotionalen Ausbrüchen und Übermut führen kann, was ihn wiederum dazu verleitet hat, die Provokation förmlich zu suchen. Mir hat dies definitiv missfallen, es ist aber auch einer der Schlüssel zum Erfolg des Romans gewesen.

Fazit

„Es“ ist zweifelsfrei ein Horrorroman der Kontroversen. Manche lieben ihn, manche fanden ihn grässlich. Ich dagegen gehöre wohl zu einem der wenigen Menschen, der sich mit seinem Urteil eher im Mittelfeld bewegt. Mit, je nach Format, über 1500 Seiten ist der Roman der wahrscheinlich dickste Schinken seines Genres und nichts für zwischendurch. Der Schreibstil war stellenweise raffiniert, stellenweise zu ausschweifend. Die Geschichte war atmosphärisch, die Figuren durchdachte Individuen, denen dennoch gelegentlich ein stereotyper Stempel aufgedrückt wurde. Der Horror war kreativ, brutal und trotzdem erträglich. „Es“ sprengt die Grenzen des einfachen Horrors und verknüpft sie mit Gesellschaftsproblemen. Das größte Manko bleibt jedoch die verstörende Szene am Ende, die nichts weiter als eine wenig rühmliche, aber erfolgreiche Provokation ist. Kurzum, „Es“ ist ein guter Horrorroman, der zu Recht über die Jahre zum Klassiker avanciert ist, der aber nicht in allen Punkten überzeugen kann. Deshalb gebe ich dem Buch aus dem Jahr 1986 drei von fünf Federn. King wird wahrscheinlich nicht mein neuer Lieblingsautor werden, ich werde aber nächstes Jahr gerne einen weiteren seiner zahlreichen Romane lesen.