Der goldene Kompass

Der goldene Kompass
11. August 2020 2 Von lara

Expedition in den Norden

Meine August-Rezension 2020

Um die „His Dark Materials“-Trilogie von Philip Pullman habe ich lange einen großen Bogen gemacht, bis ich sie als Schuber gebraucht günstig gekauft habe und mir dachte, dass ich dem Ganzen doch eine Chance geben könnte. Der erste Band ist „Der goldene Kompass“, welcher 2007 mit Nicole Kidman und Daniel Craig in den Hauptrollen verfilmt wurde. Die Kritiken fielen eher mäßig aus, bei Rotten Tomatoes erreichte er ernüchternde 42%. Der allgemeine Tenor lautete, dass der Film vor überkompensierten visuellen Effekten nur so strotzen würde, die Erzählung der Geschichte dabei aber zu sehr in den Hintergrund rücke. Auch der finanzielle Erfolg blieb hinter den Erwartungen zurück. Mit 180 Millionen US-Dollar investierte das Studio so viel Geld wie nie zuvor. In den USA spielte der Film aber nur 70 Millionen Dollar wieder ein, weshalb die Produktion der geplanten Fortsetzungen gestoppt wurde. „Der goldene Kompass“ ist dem Contemporary-Fantasy zuzuordnen und erschien 1996 auf Deutsch.

Inhalt

In einer Parallelwelt, die grob mit der realen Welt Anfang des 20. Jahrhunderts zu vergleichen ist, lebt die zwölfjährige Lyra Belaqua mit ihrem Dæmon Pantalaimon im Jordan College im britischen Oxford. Ihr einziger Verwandter ist ihr Onkel Lord Asriel, der eines Tages von einer Expedition aus der Arktis zurückkehrt. An diesem Abend verhindert Lyra den Giftmord an ihrem Onkel und sie belauscht ihn, wie er den Akademikern des Colleges von sogenannten Staub erzählt, einer kosmischen Materie, die er genauer untersuchen möchte. Trotz ihrer Bitte sie mitzunehmen, reist Lord Asriel ohne Lyra ab. Als dann Gerüchte von Gobblern kursieren, Menschen, die ihm ganzen Land Kinder entführen und kurz darauf Lyras Freund Roger spurlos verschwindet, macht sie sich sowohl auf die Suche nach ihm, als auch ihren Onkel.

Cover

Von „Der goldene Kompass“ gibt es inzwischen schon viele verschiedene Cover. Ich habe das aus dem Buchschuber, das im Hintergrund einen dunkelblauen Sternenhimmel zeigt. Im Vordergrund ist eine Frontalansicht einer Illustration eines Eisbären, der auf seinem Rücken ein Mädchen trägt, dessen Kopf man nur sehen kann. Sie trägt einen Pelzkragen und eine blaue Wollmütze, unter der zwei blonde Haarsträhnen hervorblitzen. Ihr Gesicht isr recht androgyn, es könnte also auch ein Junge sein, aber da Lyra die Protagonistin ist, gehe ich stark davon aus, dass sie hier abgebildet ist.
Die anderen Cover zeigen beispielsweise ein Mädchen auf einem Eisbären im Profil, die auf einem Eisberg vor grünen Nordlichtern stehen. Ein anderes Cover zeigt einen goldenen Kompass mit vier Zeigern und merkwürdigen Symbolen in einem Goldwirbel, ein anderes dagegen auch einen Kompass, allerdings vor einen Gebirgslandschaft. Außerdem gibt es das entsprechende Buch zum Film, welches als Cover eines der Filmplakate abbildet.

Kritik

Mit knapp 450 Seiten ist das Buch in insgesamt drei Teile aufgespalten: „Oxford“, „Bolvangar“ und „Svalbard“. Alle 23 Kapitel tragen einen Titel. Zuvor findet sich jedoch ein Auszug aus John Miltons „Das verlorene Paradies“. Zitate aus diesem Werk zu Beginn eines Buches habe ich dieses Jahr sage und schreibe schon drei Mal gefunden, denn Cassandra Clare nutzte es ebenfalls bei „City of Bones“ und „City of Ashes“.
„An die Wand gedrückt und von der Küche aus nicht zu sehen, schlichen Lyra und ihr Dæmon durch den dämmrigen Speisesaal.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels. Hier berichtet ein auktorialer Erzähler in Präteritum. Der Leser lernt sofort die Protagonistin kennen, wie sie sich in ihrem Zuhause verhält. Sie ist klein, zierlich und hat dunkelblonde Haare. Als Waisenkind wird sie von des Mitarbeitern des Colleges erzogen und unterrichtet, wenn auch nur lückenhaft. Sie ist ein kluges, aber ebenso freches und abenteuerlustiges Mädchen, das gerne heimlich die Regeln bricht, was sich an ihrem Schleichen im ersten Satz schon erahnen lässt. Im College selbst fehlt es ihr an einer weiblichen Identifikationsfigur, wie sie selbst feststellt, deswegen ist sie eher burschikos. Immer in ihrer Nähe ist ihr Dæmon Pantalaimon. In ihrer Welt ist ein Dæmon ein Wesen in einer Tiergestalt, mit dem jeder Mensch geboren wird. Dieser hat meistens das gegenteilige Geschlecht seines Besitzers. Solange man noch ein Kind ist, wandelt sich die Tiergestalt des Dæmons regelmäßig. Deshalb ist Pantalaimon, kurz Pan, auch mal ein Iltis, mal eine Motte und mal ein Spatz. Erst als junger Erwachsener erhält der Dæmon seine endgültige Gestalt, die den Charakter des Besitzers repräsentiert. Mensch und Dæmon sind unzertrennlich miteinander verbunden. Sie können sich räumlich nie weit trennen und wenn einer stirbt, stirbt auch der andere. Mir persönlich hat die Idee der Symbolisierung von Leib und Seele extrem gut gefallen. Nirgendwo sonst habe ich ein ähnliches Konzept gelesen, wodurch ich sofort beeindruckt war.
Unter Contemporary-Fantasy versteht man eine fiktive Welt, die zur realen Welt starke Parallelen aufweist. Lyras Welt ähnelt der unseren geografisch in vielerlei Hinsicht, aber eben nicht gänzlich. Ein weiteres Merkmal ist, dass die Fantasyaspekte nur teilweise vorhanden, den Menschen aber bekannt sind und akzeptiert werden. Dazu gehören unter anderem die Dæmonen oder die sogenannten Panserbjørn, gepanzerte und sprechende Bären, als auch das Alethiometer, ein Werkzeug, das einem die Wahrheit sagt. Die Welt selbst bietet eine Mischung aus viktorianischem Zeitalter und Steampunk, was atmosphärisch zu überzeugen weiß.
Typisch für ein Jugendbuch geht es in „Der goldene Kompass“ um das Erwachsen werden, Übernahme von Verantwortung und Selbstfindung, was durch den Dæmon untermalt wird. Aber auch erwachsenere und sozialkritische Motive wie Krieg, der Konflikt zwischen Wissenschaft und Kirche oder Alkoholismus finden hier Platz. Vor allem die antiklerikale Haltung spielt wiederholt eine Rolle. Deswegen wird „Der goldene Kompass“ auch als das Gegenbild zu „Die Chroniken von Narnia“ verstanden. Denn obwohl die dargestellte Parallelwelt so anders ist wie unsere, gibt es in ihr dieselben Probleme.
Pullmans Schreibstil ist detailliert, abwechslungsreich und spannend. Ich habe sowohl die lauten, als auch die leisen Töne genossen und jede einzelne Seite gerne gelesen. Einziges Manko ist, dass Lyra im dritten Kapitel mit ihren Freunden heimlich eine stibitzte Zigarette raucht, was bei einer zwölfjährigen Protagonistin doch bedenklich ist. Denn die Zielgruppe liegt hier etwa bei 12-16 Jahren. Ob man bei so einer jungen Leserschaft vermitteln sollte, dass es okay ist heimlich Zigaretten oder Alkohol auszuprobieren, sei mal dahingestellt.
Das Ende war spannend, traurig und lässt viele Fragen offen. Was wird Lyra in ihrer neuen Umgebung erwarten? Wann nimmt Pantalaimon seine endgültige Form an und welche? Was wird passieren, wenn Lyra wieder auf Lord Asriel trifft? Und was geschieht mit ihren alten Freunden und Verbündeten wie Ma Costa, Farder Coram oder Iorek Byrnison? Ich habe keine Ahnung, wohin die Richtung in der Fortsetzung führt, aber umso erwartungsvoller bin ich auch.
Mit sogenannten „Laternbildern“, mosaikhaften Textschnipseln, die Lyras Welt noch einmal kurz, aber aufschlussreich beleuchten, bietet Pullman einen traumhaft kreativen Epilog.

Fazit

„Der goldene Kompass“ hat mich in vielerlei Hinsicht überrascht. Der Plot war anders, als ich ihn mir vorgestellt habe, aber seine Unvorhersehbarkeit machte ihn nur aufregender. Eine burschikose, dickköpfige und doch liebenswürdige Protagonistin in einer Parallelwelt, die Steampunk und Arktis vereint, machen den Reihenauftakt zu einem besonders schönen Leseerlebnis. Nur die Tatsache, dass Tabakkonsum von Kindern als eher harmlos dargestellt wird und kleinere repetitive Floskeln trüben diesen Genuss leicht. Deshalb gebe ich dem ersten Band der „His Dark Materials“-Reihe vier von fünf Federn. Ich werde sofort mit dem Folgeband „Das magische Messer“ fortfahren.