Abgeschnitten

Abgeschnitten
2. September 2019 0 Von lara

Heute wird seziert

Meine September-Rezension 2019

Nach „Abgeschlagen“ von Michael Tsokos kommt nun „Abgeschnitten“ dran, was der Rechtsmediziner gemeinsam mit Sebastian Fitzek geschrieben hat. Zwar sind beide Männer die Autoren, ich werde aber zur Kürzung im Verlauf nur Fitzek als Autor nennen, auch wenn mir bewusst ist, dass Tsokos‘ Rolle hier ähnlich groß ist. Eigentlich käme „Abgeschnitten“ vor „Abgeschlagen“, da letzteres erst dieses Jahr erschien, während ersteres bereits 2012 veröffentlicht wurde. Chronologisch spielen sie aber genau umgekehrt, sprich „Abgeschlagen“ ist die Vorgeschichte. Der Psychothriller, den ich diesen Monat gelesen habe, wurde außerdem verfilmt und kam 2018 in die deutschen Kinos. In den Hauptrollen spielen Moritz Bleibtreu und Lars Eidinger. Fitzek und Tsokos haben Cameo-Auftritte.

Inhalt

Der 43-jährige Paul Herzfeld ist Rechtsmediziner bei einer Sonderkommission des Berliner BKAs. Von seiner Frau Petra ist er inzwischen geschieden, zu seiner 17-jährigen Tochter Hannah hat er kaum noch Kontakt. Umso mehr stürzt sich Paul in seinen Beruf, wo ihm eines Tages eine weibliche Leiche zugewiesen wird, der der Unter- und Oberkiefer, sowie beide Hände amputiert wurden. Das CT zeigt außerdem einen Fremdkörper im Schädel der toten Frau, der sich als Kapsel herausstellt. In dieser Kapsel findet Paul einen kleinen Zettel, auf dem der Name seiner Tochter und eine Handynummer steht. Er ruft dort an und auf der Mailbox meldet sich Hannah, die erzählt, dass sie entführt wurde und befürchtet ermordet zu werden. Zudem soll er auf einen Erik warten.
Die 24-jährige Linda Kaminski ist Illustratorin und lebt übergangsweise auf der Insel Helgoland, um sich vor ihrem Exfreund und Stalker Daniel zu verstecken. Über die Nordseeinsel zieht gerade der Orkan Anna, weshalb keine Fähren mehr fahren. Am Strand macht Linda dann eine gruselige Entdeckung. Dort liegt die Leiche eines Mannes, auf dessen Shirt ein Name geschrieben ist: Erik.

Cover

Auf den ersten Blick wirkt das Cover recht unspektakulär, je länger man es betrachtet, umso unheimlicher wird es aber. Der Grund ist weiß und wirkt wie Papier, die Ränder sind abgedunkelt. Von unten links bis in die Mitte zieht sich ein roter Schlitz, der durch eine Rasierklinge herbeigeführt wurde, die zur Hälfte hervorragt. Obwohl es so minimalistisch ist, gefällt mir das Cover sehr gut. „Abgeschnitten“ ist übrigens als Wortspiel zu interpretieren, da einerseits die Hände der ersten Leiche abgeschnitten wurde, als auch die Insel Helgoland aufgrund des Sturms von der Zivilisation völlig abschnitten ist.

Kritik

Direkt zu Beginn der Inhaltsangabe bin ich stutzig geworden. Der Protagonist Paul Herzfeld soll 43 Jahre alt sein, seine Tochter Hannah ist 17. In „Abgeschlagen“ war er 36 Jahre alt, also spielte dieser Plot sieben Jahre zuvor. Seine Tochter war damals aber erst fünf Jahre alt, also ganze zwölf Jahre jünger, in einem Kapitel brachte er sie sogar in den Kindergarten. Dass zwei Charaktere unterschiedlich schnell altern sollen, ist ein ziemlich gravierender Fehler, der allerdings auf „Abgeschlagen“ zurückzuführen ist, weil der Thriller erst später geschrieben wurde.
Noch bevor der Prolog beginnt, finden sich zwei reale Auszüge aus Zeitungsartikeln aus den Jahren 2010 und 2009, wovon einer von einem Gerichtsurteil bei mehrfacher sexueller Misshandlung einer Minderjährigen, der andere vom Urteil eines Börsenbetrügers berichtet. Der Kinderschänder erhielt eine Bewährungsstrafe, der Börsenbetrüger fünfeinhalb Jahre Haft. Die Intention dieser Artikel ist klar: Sie sollen in dem Leser Zweifel am deutschen Justizsystem wecken, die in manch einer Hinsicht eventuell auch nicht unbegründet sind.
Der erste Satz des Prologs lautet: „‚Wo steckst du denn?‘“, und wird am Telefon von der Mutter der 13-jährigen Fiona gesprochen, die abends auf ihrem Fahrrad nach Hause fährt. Die Mutter macht sich Sorgen, es ist bereits dunkel und das Schulmädchen fährt ganz allein in der Dunkelheit durch einen Wald. Doch bevor der Gedanke aufkommt, dass ihr etwas zustoßen könnte, wird man mit einem heftigen Schockmoment eines Besseren belehrt.
Das erste Kapitel macht vorerst genauso blutig weiter. Hier lernt der Leser erstmals die weibliche Protagonistin Linda Kaminski kennen. Auf fast 400 Seiten gibt es 67 Kapitel plus einen Epilog. Alle werden aus der Perspektive des personalen Erzählers und im Präteritum dargestellt. Zu den drei Erzählern gehören neben Linda Paul Herzfeld, sowie ein jugendliches Mädchen. Unter den Kapiteln steht vereinzelt der Handlungsort, um auf den Erzähler schließen zu können.
Paul Herzfeld wirkt hier charakterlich deutlich verändert im Vergleich zu „Abgeschlagen“. War er mir dort noch ein wenig zu farblos, wirkt er hier eher frustriert, reizbar und jähzornig, was wahrscheinlich mit seinem gescheiterten Privatleben zusammenhängt. Sympathischer hat ihn das nicht unbedingt gemacht, aber sein Gemütszustand ist in seiner Situation absolut nachvollziehbar.
„Abgeschnitten“ ist absolut nichts für schwache Nerven. Es kommen recht explizite Vergewaltigungsszenen vor, blutige Auseinandersetzungen und natürlich sezierte Leichen, obwohl das Buch hier nicht ganz halten mag, was es vorerst verspricht, denn hier wird ganz klar mit dem „Was wäre, wenn…“ gespielt. In diesem Fall: Was wäre, wenn man als Laie unter Instruktionen eine Leiche sezieren müsste? Wie würde man sich verhalten? Würde man Ekel empfinden? Die tatsächliche Obduktion, die Linda hier durchführt, ist aber medizinisch betrachtet sehr oberflächlich und minimalistisch, die zweite Leiche wird gar nicht mehr seziert. Der rechtsmedizinische Faktor ist also deutlich kleiner als vom Leser erwartet.
Der Plot ist wahnsinnig spannend, aber auch sehr verworren. Es gibt so viele Irrungen und Plottwists, dass einem davon förmlich schwindelig wird. Zwar hatte ich in einem Punkt den richtigen Riecher, vielen anderen Täuschungsversuchen Fitzeks bin ich aber auf den Leim gegangen. Nichts ist so, wie es am Anfang scheint und man muss höllisch aufpassen, um jeden noch so kleinsten Wink zu verstehen. Allerdings ist diese Geschichte wirklich enorm an den Haaren herbeigezogen. Dabei geht es nicht einmal um die vom Rest der Welt abgeschnittene Insel, auf der plötzlich ein Laie sezieren soll, sondern um das gesamte Konstrukt, das um dieses Geschehen aufgebaut wurde. Um nicht zu spoilern, muss ich hier aber auf Beispiele verzichten.
Das Ende packt den Leser dann nochmal mit aller Gewalt. Ich habe es nahezu inhaliert und konnte das Buch auf den letzten 50 Seiten nicht mehr aus der Hand legen. Hier beweist Fitzek noch einmal, dass er der Meister der Täuschung und der spekatkulären Offenbarung ist.

Fazit

„Abgeschnitten“ von Sebastian Fitzek und Michael Tsokos hat alles, was ein guter Psychothriller braucht. Spannung, Plottwists und Rückenschauer geben sich hier die Klinke in die Hand. Leider hält der Klappentext nicht ganz, was er verspricht, denn der Fokus liegt hier nicht auf von Laien durchgeführten Obduktionen, sondern ist nur ein kleiner Aspekt eines sehr komplexen Geflechts. Dieses ist jedoch recht unrealistisch, wenn nicht sogar schon hanebüchen, was dem Ganzen dann doch einen Abbruch tut. Nichtsdestotrotz ist das 2012 erschienene Buch durchaus lesenswert, ich habe aber auch schon bessere Werke von Fitzek gelesen. Deshalb erhält „Abgeschnitten“ von mir drei von fünf Federn.