Abgeschlagen
Paul Herzfelds erster Fall
Meine dritte August-Rezension 2019
Seit „Dem Tod auf der Spur“ bin ich ein großer Fan vom Rechtsmediziner Prof. Michael Tsokos. Neben dem Sachbuch wurde auch eine gleichnamige Fernsehserie von Sat1 produziert. Erst vor Kurzem habe ich seinen Podcast „Die Zeichen des Todes“ gehört, in dem einige seiner Fälle geschildert werden, die ebenfalls in seinen weiteren Sachbüchern zu finden sind. Dieses Jahr im März erschien sein neuestes Werk „Abgeschlagen“, das die Vorgeschichte zu „Abgeschnitten“ ist, was er gemeinsam mit dem erfolgreichen Thrillerautor Sebastian Fitzek geschrieben hat. „Abgeschlagen“ ist ein True-Crime-Thriller. Tsokos ließ sich zwar von verschiedenen echten Fällen seiner Karriere hierfür inspirieren, die Geschichte selbst ist jedoch fiktiv.
Inhalt
Der 36-jährige Paul Herzfeld ist Assistenzarzt in der Kieler Rechtsmedizin. Mit seiner Verlobten Petra hat er eine fünfjährige Tochter namens Hannah. Am 6. Januar 2005 haben zwei Reporter des NDR einen Termin in der Rechtsmedizin und wollen eine Obduktion filmen, bei der er dem Oberarzt Prof. Volker Schneider assistieren soll. Bei der Leiche handelt es sich um die 83-jährige Edda Steen, die offensichtlich den recht geläufigen Alterssuizid begangen haben soll. Während der äußeren Leichenschau kommen Paul jedoch erste Zweifel an einer Selbsttötung. Vor laufenden Kameras bloßgestellt zu werden, erzürnt seinen narzisstischen Vorgesetzten und führt zudem dazu, dass die Mordkommission eingeschaltet wird. Denn in Kiel läuft scheinbar ein Mörder frei herum.
Cover
Eine große Machete auf schwarzem Hintergrund. Der Griff ist nach oben links gerichtet, der kurze Riss, den die Spitze unten rechts in den Grund eingeschlitzt hat, lässt sich an einer Hochprägung ertasten. Das Cover ist minimalistisch, aber sehr passend für die Geschichte, da eine Machete hier mehrfach eine wichtige Rolle spielt. Außerdem ist „Abgeschlagen“ ein Wortspiel mit den verschiedenen möglichen Definitionen, wie abgelegenen Orten, erschöpft zu sein, beziehungsweise zurückzuliegen oder eben dem abgeschlagenen Kopf mit einer Machete.
Kritik
„Paul Herzfeld hob den Kopf der Toten an.“, ist der erste Satz des Prologs. Damit ist sofort klar, worauf hier der Fokus liegt: Rechtsmedizin. Wie außergewöhnlich die Situation aber für den Rechtsmediziner Herzfeld ist, wird erst kurz darauf deutlich, denn der Prolog ist eigentlich ein Ausschnitt aus dem Finale, was bei Thrillern ein recht gängiges Mittel ist.
„Abgeschlagen“ hat knapp über 400 Seiten und neben dem Prolog genau 108 Kapitel, sowie ein Nachwort. Im Schnitt hat ein Kapitel also etwa vier Seiten, was auch typisch für dieses Genre ist. Die Geschichte wird im Präteritum und personal erzählt, wobei es eine Menge Figuren gibt, die als Erzähler fungieren, wobei manche nur einmalige Auftritte haben und andere Protagonisten sind. Das erste Kapitel erzählt beispielsweise der Geschäftsmann Marius Wagner, der in dieser Szene gerade seinen Fetisch bei einer Prostituierten auslebt. Er ist ein kleiner Nebencharakter, der nur einmal erzählt. Im zweiten Kapitel steht Achim Wittfeld im Fokus, einem Methamphetaminabhängigen, der im Drogenrausch mit Kugelschreiber ein Skizze anfertigt. Zwar ist er auch eine Nebenfigur, er tritt allerdings mehrfach auf. In Kapitel drei ist die Prostituierte Ewa Barczak die Erzählerin, die gerade Marius Wagner als Freier hat. Auch sie kommt, zumindest in Teil eins, mehrmals vor. „Abgeschlagen“ besteht insgesamt aus drei Teilen, wobei Teil zwei mit Kapitel 11 beginnt und Teil 3 mit Kapitel 89. Unter jedem Kapitel sind drei kleine graue Totenköpfe abgedruckt.
Erst ab dem zweiten Teil tritt der Protagonist Paul Herzfeld auf, der seine Tochter in den Kindergarten bringt. Er ist ein junger Familienvater mit einer intakten Ehe, aber auch mit viel beruflichem Engagement und Talent. Ansonsten wirkt er ein wenig zu gesichtslos. Er ist weder stets die Ruhe selbst, noch cholerisch. Er wirkt angemessen selbstbewusst ohne überheblich zu sein. Kurzum er wirkt, selbst für einen Thriller-Protagonisten zu flach.
Zugegeben, meine größte Befürchtung war, dass Tsokos zwar großartige Sachbücher verfasst, der Schreibstil aber enttäuschend ist. Dem ist glücklicherweise aber nicht so. Egal ob harte Drogen, Prostitution, Nekrophilie oder andere Fetische, dem Leser bleibt nichts erspart. Der Stil ist sachlich, dunkel und steril, was die Atmosphäre wunderbar widerspiegelt. Auch die Recherche ist, nicht nur aus rechtsmedizinischer Sicht, sondern auch aus juristischer, extrem präzise durchgeführt. Die unglaublichsten Geschichten schreibt ja bekanntlich das Leben und die kann in diesem Fall wohl kaum jemand besser erzählen, als ein Rechtsmediziner, der bereits unfassbare Fälle hautnah miterlebt hat. Was das neue Genre True-Crime-Thriller betrifft, ist Tsokos definitiv die Nummer eins in Deutschland. Von den Fällen, die er in seinen Sachbüchern vorgestellt hat, finden sich hier einige wieder, wie der Puzzle-Mörder oder der schwerst adipöse Tote, der von der Feuerwehr aus dem ausgehobenen Fenster geborgen werden musste.
Ein paar Kritikpunkte muss ich leider noch einfügen. Erst einmal einen, den ich als ein Zeitparadoxon deklariert habe. Ich will immer genau wissen, wann ein Buch spielt. Am Anfang der einzelnen Kapitel in „Abgeschlagen“ stehen zwar immer Datum, Uhrzeit und Handlungsort, ein Jahr wird aber nicht genannt. Allerdings wird einmalig erwähnt, dass die erste Leiche, die in Teil zwei obduziert wird, von der 83-jährigen Edda Steen ist, die laut Akte 1921 geboren wurde. Das Datum ist an dieser Stelle der 6. Januar. Geht man davon aus, dass Edda Steen nicht in der ersten Kalenderwoche Geburtstag hat, kann das vollständige Datum nur noch der 6. Januar 2005 sein. Dem widersprechen jedoch mehrere kleinere und größere Details. Erstens liest Hannah, Pauls kleine Tochter im Auto auf dem Weg zum Kindergarten „Pupsi und Stinki“ von Sebastian Fitzek, obwohl das Kinderbuch erst 2017 erschien. Allerdings sind Tsokos und Fitzek gute Freunde, weshalb dieser Fehler wahrscheinlich absichtlich in Kauf genommen wurde. Zweitens tritt die real existierende Rechtsmedizinerin Lucia Tattoli auf, die in Italien Berühmtheit erlangt hatte, weil sie als Taucherin und Rechtsmedizinerin im Fall der Costa Concordia involviert war. Auch das wird im Buch erwähnt, obwohl der Untergang des Passagierschiffes, das große mediale Aufmerksamkeit erhalten hatte, im Jahr 2014 war. Drittens wirkt die Technik in beschriebenen Kiel ebenfalls eher wie mindestens 2010. So kommen beispielsweise eingebaute Freisprechanlagen oder Xenon-Scheinwerfer bei Autos regelmäßig vor. Paul Herzfeld trägt in einer Passage Schuhe der Marke Timberland, die erst gegen 2010 Modeschuhe wurden. Der eindeutigste Beweis, dass der Thriller sich bezüglich des Handlungsjahres widerspricht, findet sich in Kapitel 44. Es ist der 13. Januar und angeblich ein Freitag. Wie das Alter von Edda Steen beweist, müsste es eigentlich 2005 sein. In dem Jahr fiel der 13. Januar aber auf einen Donnerstag. 2006 war der 13. Januar tatsächlich ein Freitag, da wäre die tote Edda aber schon 84 Jahre alt. Das ist ein Fehler, selbst wenn er auf den ersten Blick nicht auffällt, stört er letztendlich doch. Das mag zwar kleinlich wirken, aber an solch kleinen Details trennt sich nun mal die Spreu vom Weizen.
Außerdem ist der Plot zwar spannend und unterhaltsam, leider ist jedoch absolut offensichtlich und vorhersehbar, wer der Serienmörder ist, dem Paul Herzfeld auf der Spur ist. Dementsprechend ist das Ende zwar keine Überraschung, Nervenkitzel kommt aber dennoch auf.
Fazit
„Abgeschlagen“ hat mich in vielerlei Hinsicht begeistert: ein packend geschriebener Pageturner mit ausgezeichneter Recherche, der kurzweilige Nächte verspricht und mit Beschreibungen von Leichen, die nichts für schwache Nerven sind. Andererseits kam in anderen Punkten Enttäuschung auf, wie die Vorhersehbarkeit der Täteridentität, dem flachen Protagonisten oder das Zeitparadoxon. Kurzum, der True-Crime-Thriller konnte mich überzeugen, wird sich aber nicht zu meinen Favoriten reihen können. Deswegen erhält das im März erschienen Buch von Michael Tsokos drei von fünf Federn. Angefixt auf Tsokos‘ Werke bin ich aber ohnehin schon, deswegen werde ich als nächstes die Fortsetzung „Abgeschnitten“ lesen, die er gemeinsam mit Sebastian Fitzek geschrieben hat.