Atlantia

Atlantia
4. Juli 2019 0 Von lara

Wenn die Menschheit untergeht

Meine Juli-Rezension 2019

Als ich 2016 mit meinem noch kleinen Blog anfing, den es damals nur auf Facebook gab, war die erste Trilogie, die ich rezensierte „Cassia & Ky“ von Ally Condie. Für mich gehört diese nach wie vor zu einer der besten dystopischen Jugendbuchreihen, die ich bislang gelesen habe. Vor allem der Auftakt „Die Auswahl“ konnte mich hellauf begeistern. Mit „Atlantia“ aus dem Jahr 2015 habe ich mich nun an ein weiteres Werk derselben Autorin gewagt, welches dieses Mal ein Einzelband ist. Auch das Genre ist hier ein anderes. Es entspricht am ehesten einem Contemporary Fantasy-Jugendbuch, enthält aber auch wieder dystopische Elemente.

Inhalt

Die 15-jährige Rio Conwy lebt zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Bay in Atlantia, einer Stadt aus Glas und Stahl, die unter Wasser gebaut ist. Ihre Eltern sind tot, damit sind die Schwestern Vollwaisen und haben nur noch einander. Die einzige Möglichkeit Atlantia zu verlassen und für immer an der Erdoberfläche zu leben, ist die Zeremonie, die jeder Bewohner der Stadt einmal im Leben vollziehen muss. Auch wenn Rio gerne nach oben gehen würde, obwohl das Land als krankmachender und brutaler Ort bekannt ist, will sie nur Bay zuliebe nicht gehen. Nachdem sie sich bereits für Atlantia entschieden hat, wählt Bay völlig überraschend die Oberfläche und lässt Rio alleine zurück. Nun muss sie verzweifelt nach einem Weg suchen ihre Zwillingsschwester wiederzusehen.

Cover

Ein Lichtpunkt liegt in der Mitte des Covers, der den Hintergrund nach innen hin in aufhellenden Blautönen zeigt. Darüber liegt eine Pfütze, von der aus Tropfen in jede Richtung springen. In der linken Hälfte dieser Pfütze erkennt man die Silhouette eines Mädchens, das die Arme nach oben abspreizt und aussieht, als würde sie auf der Wasserfläche treiben. Vermutlich symbolisiert sie die Protagonistin Rio.
Das Cover selbst ist zwar ganz nett, war aber nicht der ausschlaggebende Grund für einen Kauf des Buches. Vielmehr mochte ich die vorangegangene Trilogie der Autorin sehr gerne und hatte mir von „Atlantia“ Ähnliches erhofft.

Kritik

„Meine Zwillingsschwester Bay und ich schreiten unter den braun-türkisfarbenen Bannern hindurch, die von der Decke des Tempels herabhängen.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels und offenbart schon so Einiges. Zuerst wäre da Rio als Ich-Erzählerin im Präsens, wie man es auch schon von „Die Auswahl“ kennt, und ihre Schwester als treue Gefährtin. Auch der Tempel, der sowohl Wohnort der beiden Mädchen als auch Austragungsort der Zeremonie ist, die direkt am Anfang stattfindet, was sich an den Bannern erkennen lässt, wird erwähnt. Die Banner zeigen aber nicht nur, dass der Tempel gerade festlich geschmückt ist, sondern an den Farben wird ebenfalls deutlich, worauf diese Zeremonie abzielt: Die Bewohner haben einmalig die Wahl zwischen der Erde, der die Farbe Braun zugewiesen wird, oder Atlantia, das durch Türkis repräsentiert wird.
Die Protagonistin Rio Conwy ist ein 15-jähriges Mädchen, das verhältnismäßig groß ist und dunkelbraune Haare hat. Ihre Schwester Bay ist nicht ihr eineiiger Zwilling, weshalb die beiden sich nicht zum Verwechseln ähnlich sehen. Doch Rio hat noch ein anderes Geheimnis, das sie von ihrer Zwillingsschwester unterscheidet: Sie ist eine Sirene, was ihr übernatürliche Fähigkeiten verleiht. Da diese aber gezwungenermaßen vom Tempel erzogen werden und zu eigener Machtnutzung verwendet werden, Atlantia ist übrigens eine Theokratie, versuchte Rios Mutter Ozeana ihre wahre Natur zu unterdrücken. Die Hauptaufgabe liegt vor allem darin, die Stimme im Zaum zu halten, damit Mitmenschen nicht bemerken, dass Rio eine Sirene ist. Deswegen darf sie niemals zu viele Emotionen in ihre Stimme legen. Weinen, schreien oder lachen würde Rio sofort entlarven. Aus diesem Grund wirkt sie immer reserviert, still und kontrolliert, aber auch sehr ehrgeizig, willensstark und strebsam. Ich mochte Rio als Charakter, besonders weil sie so diszipliniert ist und sogar ihr Leben riskieren würde, um ihre Schwester wiederzusehen. Da die Zeremonie aber sofort im ersten Kapitel stattfindet und der Leser dadurch nur kurz Bay kennenlernt, wird die Bindung der beiden nicht ausreichend deutlich, was dazu führt, dass man die Sehnsucht Rios nach ihrer Schwester nur bedingt nachvollziehen kann.
Die Sirenen kommen ursprünglich aus der griechischen Mythologie, wo sie in Bildnissen anfangs aussahen wie Frauenköpfe mit Vogelkörpern oder wie schöne Frauen mit Flügeln. Man sagte ihnen eine Verwandtschaft mit Harpyien nach. Erst seit dem Mittelalter wurden die Sirenen wie ein Mischwesen aus Mensch und Fisch dargestellt oder sogar mit Meerjungfrauen gleichgesetzt. Sie leben auf der Sireneninsel und locken mit ihrem betörenden Gesang Seefahrer in den Tod. Das mittelalterliche Christentum interpretierte die Sirenen als Symbol der Versuchung und Verführung, denen man zum Eigenschutz widerstehen sollte. Bei Condie sind Sirenen menschlicher Optik, lediglich die Stimme, mit der sich die meisten Menschen und teilweise auch Objekte manipulieren lassen, bleiben aus der Mythologie.
„Atlantia“ leitet sich von Atlantis ab, der versunkenen Stadt, die ihre Ursprünge ebenfalls in der griechischen Mythologie hat und erstmals im vierten Jahrhundert vor Christus vom Philosophen Platon erwähnt wurde. Demnach soll Atlantis etwa 9600 Jahre vor Christus aufgrund einer Naturkatastrophe versunken sein und größer sein als Nordafrika. Auch Wissenschaftler beschäftigten sich mit dem Mythos Atlantis und versuchten reale Ereignisse damit zu vereinbaren, kamen aber zu keinem schlüssigen Ergebnis. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Atlantis ein sogenannter platonischer Mythos ist, also ein Beispiel für Platons philosophische Ansätze, in diesem Fall für Staatsphilosophie. „Atlantia“ dagegen ist keine versunkene Insel, sondern eine künstlich gefertigte Stadt unter Wasser, die aus gläsernen Halbkugeln unterschiedlicher Größe bestehen, welche mit Gängen aus Stahl und Glas miteinander verbunden sind. Die Großstadt unter Wasser wurde gebaut, da das Leben auf der Erdoberfläche, vermutlich durch Klimawandel, Krieg und Umweltverschmutzung, für die Menschen schwere gesundheitliche Folgen hat. Es ist also ein Privileg Bewohner Atlantias sein zu dürfen. Nichtsdestotrotz wird das erreichen der Erdoberfläche stark reglementiert, sodass fraglich ist, ob die Regierung nicht doch etwas zu verbergen hat. Hierbei wird noch einmal die dystopische Komponente deutlich.
Nach wie vor gefällt mir Condies Schreibstil und die Liebe für Details, mit der sie ihre Handlungsorte und deren Rahmenbedingungen gestaltet. Die Kombination aus der fiktiven Religion mit Polytheismus und der Theokratie haben mir gut gefallen. Jedoch gibt es in diesem Jugendbuch ein Begriff, der so häufig fällt, dass er einem aus den Ohren heraushängt und schlimmer noch, schon fast unfreiwillig Slapstick-Charakter besitzt: Blasphemie. Ich weiß nicht wieso, aber Condie scheint daran regelrecht einen Narren gefressen zu haben, während er mir ab der Hälfte des Buches unheimlich auf die Nerven gegangen ist.
Natürlich darf in einem Jugendbuch mit weiblicher Protagonistin eine Liebesgeschichte nicht fehlen. Ich hätte zwar problemlos darauf verzichten können, muss aber zugeben, dass mir die Umsetzung doch gut gefallen hat. Sie ist nicht zu aufdringlich, verdrängt also weder den Plot, noch ist sie zu kitschig.
Insgesamt weist der Plot keinen nennenswerten Spannungsbogen auf. Die Geschichte ist verhältnismäßig ruhig, ohne dass sie zu langweilig wird. Erst ab der zweiten Hälfte von knapp 400 Seiten kommt etwas Fahrt auf. Man muss allerdings auch in der entsprechenden Stimmung sein, sich auf einen solch entschleunigten Plot einlassen zu können. Nebenbei habe ich übrigens auch das Hörbuch gehört, dass von Christiane Marx‘ melancholischer Stimme angenehm vorgelesen wird und das auf jeden Fall zu empfehlen ist.
Leider gibt es in „Atlantia“ auch so manche Logikfehler und Ungereimtheiten, die das ganze Leseerlebnis doch etwas holprig machen. Um den Rahmen nicht zu sprengen, nenne ich hier die zwei gröbsten Schnitzer. Erstens gibt es in Atlantia keine Tiere bis auf Fledermäuse, die die Bewohner eines Tages in der Nähe des Tempels entdeckten. Zwar werden die Fledermäuse ab diesem Zeitpunkt gefüttert, aber wovon sollen sie sich vorher ernährt haben? Es gibt keine Andeutungen darauf, dass es sich bei diesen Fledermäusen um Blutsauger handelt. Die meisten Arten ernähren sich von Insekten, die es aber auch nicht geben kann, wenn Fledermäuse die einzigen Tiere dort sind. Alternativ fressen andere Arten Obst, aber auch natürliche Bäume, die Früchte tragen könnten, gibt es in Atlantia nicht.
Zweitens existiert in Atlantia eine Krankheit, die Wasserlunge genannt wird und an der auch Rios Vater verstorben ist. Die Krankheit hat aber offensichtlich nichts mit einem klassischen Lungenödem zu tun, sondern wird anfangs als Erbkrankheit deklariert, weshalb ein Paar auch nicht heiraten darf, wenn beide in ihrer Familie Fälle von Wasserlunge hatten. Prinzipiell logisch, die Wahrscheinlichkeit gesunder Nachkommen wäre im Fall einer Erbkrankheit geringer, was in einem kleinen isolierten Genpool wie Atlantia fatale Folgen hätte. Später erzählt Rio aber dann von der letzten „Wasserlungen-Epidemie“, die vielen Menschen das Leben gekostet habe. Allerdings treten Epidemien ausnahmslos bei Infektionskrankheiten auf, was den Status der Erbkrankheit aufheben würde. Wie schon damals bei „Die Ankunft“ muss ich Condies Recherchen in puncto Medizin erneut kritisieren und bin enttäuscht, dass sie scheinbar nichts aus alten Fehlern gelernt hat.
Das Ende inklusive Epilog hat mich dann richtig positiv überrascht. Es ist spannend, emotional und ein großartiger Abschluss der Geschichte. Aktuell plane ich allerdings nicht weitere Bücher von Condie zu lesen.

Fazit

„Atlantia“ von Ally Condie ist eine schöne, stille Geschichte von Geschwisterliebe, Mut und maritimer Magie. Endlich findet sich eine solch liebevoll inszenierte Welt in einem Einzelband wieder, anstatt ihn künstlich in die Länge zu ziehen, um eine Reihe zu bilden. Nichtsdestotrotz hatte das Jugendbuch aus dem Jahr 2015 auch einige Schwächen, wie beispielsweise der kurze Auftritt Bays auf Kosten der Empathie des Lesers oder auch die Logikfehler und Ungereimtheiten. Vor allem die schlechte medizinische Recherche hat mich besonders enttäuscht, weil das ein Wiederholungsfehler Condies ist. Aus diesem Grund kann ich hier leider nicht mehr als drei von fünf Federn vergeben.