Die Chirurgin

Die Chirurgin
5. Oktober 2018 0 Von lara

Mord und Medizin

Meine zweite September-Rezension 2018

 

Gelegentlich frage ich meine Follower „Was lest ihr gerade?“. Für mich ist das keine banale Frage, sondern eine, die mich wirklich interessiert. Einerseits verraten mir die Antworten viel über den Geschmack meiner Follower und andererseits lasse ich mich auch gerne von ihnen für meine persönliche Wunschliste inspirieren. Ein Buch, das mir ein Follower empfohlen hat, welches es von der Wunschliste auf den Bücherstapel geschafft hat und schließlich von mir gelesen wurde, ist „Die Chirurgin“ von Tess Gerritsen. Der Medizinthriller aus dem Jahr 2003 schaffte es in Deutschland auf die Spiegel-Bestsellerliste und erhielt extrem gute Kritiken, weshalb ich mich unter anderem von allen Kommentaren meiner Follower für dieses Buch entschieden habe.

Inhalt

Detective Jane Rizzoli ist die einzige Frau in der Bostoner Mordkommission. Als sie die Leitung für eine besonders brutale Mordserie an jungen Frauen erhält, ist ihr klar, dass sie sich zwischen all der männlichen Konkurrenz beweisen muss. Von der Presse wird der Serienmörder nur als „Der Chirurg“ bezeichnet. Er dringt nachts in die Wohnungen junger alleinlebender Frauen ein, betäubt sie mit Chloroform, fesselt sie und schneidet ihre Bäuche auf, wenn sie wieder bei Bewusstsein sind, um ihnen die Gebärmutter zu entnehmen. Erst danach tötet er sie, indem er ihnen die Kehle aufschlitzt. Zwei Opfer hat es bereits gegeben: Diana Sterling und Elena Ortiz. Diese Morde gleichen einer Mordserie in Savannah bis ins Detail, die aber bereits zwei Jahre zurück liegt. Der Mörder, Andrew Capra, wurde in Notwehr von Dr. Catherine Cordell erschossen. Catherine arbeitet inzwischen wieder als Unfallchirurgin in einem Krankenhaus in Boston, also dort, wo die identische Mordserie gerade angefangen hat und sie befürchtet, dass sie erneut zur Zielscheibe eines Psychopathen wird.

Cover

Da „Die Chirurgin“ schon etwas älter ist, gibt es davon auch mehrere Cover. Eines zeigt einen Ausschnitt aus einem Ölgemälde, auf dem ein junger Mann mit nacktem Oberkörper und lockigen Haaren zu sehen ist, der einen Fingerzeig nach rechts macht. Ein anderes Cover zeigt eine Fotografie, die vollkommen in rot gehalten ist. Darauf ist eine junge Frau mit ebenfalls nacktem Oberkörper, die ihre Hände schützend nach vorne ausstreckt, welche im Schatten liegen. Das aktuelle Cover hat einen weißen Hintergrund, der von schwarzen Rissen durchzogen ist. Dort, wo die Risse aufbrechen, ist ein bläulicher Untergrund zu erkennen. In der unteren Hälfte des Bildes sind dunkle Zweige, an denen Hagebutten wachsen. Mir persönlich gefällt das aktuelle Cover am besten.

Kritik

„Heute werden sie ihre Leiche finden.“, ist der erste Satz des Prologs, welcher aus der Perspektive des Chirurgen geschrieben ist. Der Medizinthriller ist im Präteritum verfasst und hat einen personalen Erzähler, der je nach Passage, unterschiedlichen Charakteren folgt. Nur die Abschnitte aus der Perspektive des Chirurgen sind im Präsens und mit einem Ich-Erzähler formuliert. Mit der Leiche im Prolog ist das erste Opfer des Serientäters, Diana Sterling, gemeint.
Zu den anderen Erzählern gehören Jane Rizzoli, Thomas Moore, der ebenfalls Kommissar des Serienmords ist und Catherine Cordell, die die Chirurgin ist, die im Buchtitel gemeint ist. Es ist zugegeben etwas fragwürdig, warum der geschlechtsneutrale Originaltitel „The Surgeon“ auf Deutsch in „Die Chirurgin“ übersetzt wurde, wo der Serientäter von den Medien doch als „Der Chirurg“ bezeichnet wird, Mit „The Surgeon“ hat Gerritsen bestimmt nicht Catherine gemeint, beziehungsweise eher auf eine Doppeldeutigkeit angespielt.
Jane Rizzoli ist die Protagonistin, auch wenn andere Erzähler genauso große Präsenz haben. Sie ist eine kleine und leicht mollige Frau, die sich nie schminkt, ihre Haare zu einem unordentlichen Dutt bindet und unvorteilhafte Hosenanzüge mit flachen Schuhen kombiniert. Sie ist sehr ehrgeizig und wird immer wieder damit konfrontiert, dass Frauen, selbst in einer modernen Gesellschaft, nicht so gleichberechtigt sind, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Gelegentlich ist sie sogar herablassenden Kommentaren ihrer männlichen Kollegen oder sogar Streichen ausgesetzt, Beispielsweise findet sie in einer ihrer Wasserflaschen einen Tampon, der sie daran erinnern soll, dass sie eben „nur“ eine Frau ist. Auch ihre Mutter, die Janes ältere Brüder stets bevorzugt hat, schätzt die Arbeit ihrer Tochter bei der Polizei recht gering. Das erklärt vermutlich Janes Charakter. Sie ist forsch, direkt und wirkt so auf ihre Mitmenschen manchmal unsensibel. Kurzum ist sie eine burschikose Frau.
Die andere weibliche Erzählerin ist Catherine Cordell, eine junge, hübsche Frau, die in Savannah lebte, bis sie beinahe Opfer eines Sexualmordes wurde. In letzter Sekunde konnte sie sich retten, indem sie den Täter, Andrew Capra, erschoss. Seitdem ist sie stark traumatisiert. Sie lebt ständig in Angst und leidet unter Paranoia. Ein Jahr lang konnte sie deshalb sogar nicht als Chirurgin praktizieren. In Boston trat sie dann eine neue Stelle an und wurde aufgrund ihrer Zielstrebigkeit und Kompetenz schnell zur leitenden Assistenzärztin. Doch als „Der Chirurg“ auftaucht und mit ihr auf unterschiedliche Weise Kontakt aufnimmt, wird sie wieder mit ihrer Vergangenheit konfrontiert.
Zwischenzeitlich tauchen Passagen aus der Perspektive des Täters auf. Schnell wird deutlich, dass er unter Größenwahn leidet. Immer wieder glorifiziert er seine Taten, indem er sie mit historischen Ereignissen oder literarischen Meilensteinen vergleicht. Unter anderem mit Odysseus aus der griechischen Mythologie, der den Sirenen widerstehen muss oder Agamemnon, der seine Tochter Iphigenie als Kriegsopfer darbringt. Das Motiv der Opfergabe verwendet er erneut, als er über nordische Rituale sinniert. „Der Chirurg“ ist damit ein unglaublich gut gezeichneter und individueller Charakter.
Gerritsens Schreibstil ist präzise, ausdrucksstark und teilweise auch explizit. Die medizinische Recherchearbeit ist extrem gut, obwohl Gerritsen selbst Internistin war und somit ohnehin über ein großes medizinisches Wissen verfügt, wodurch sie in ihrer Recherche nur ihr Wissen erweitern musste, ohne bei Null anzufangen. Das merkt man dem Medizinthriller auch deutlich an, denn er ist in der Beschreibung von medizinischen Eingriffen und der Routine im Krankenhaus merklich detaillierter und realitätsnäher als vergleichbare Thriller. Allerdings werden einige medizinische Begriffe, die nicht jedem Laien bekannt sind, nicht näher erläutert, wie „Anastomose“ oder „Transversalschnitt“. Wer also mit dem Gebiet überhaupt nicht vertraut ist, muss entweder damit leben, das enthaltene „Ärztelatein“ nicht zu verstehen oder öfter mal recherchieren zu müssen.
Ein paar Kritikpunkte muss ich trotzdem anmerken. Im Verlauf des Romans entwickelt sich eine Liebesgeschichte, die mich wenig überzeugen konnte. Ohne zu spoilern, muss ich gestehen, dass das Paar aus verschiedenen Gründen nicht sonderlich gut zusammen passt. Außerdem wirkt der romantische Einschlag in einem so brutalen und düsteren Thriller gewissermaßen deplatziert. „Die Chirurgin“ wäre auch sehr gut ohne die Lovestory ausgekommen.
Hinzu kommt, dass Jane Rizzoli als Charakter verhältnismäßig wenig Erzählzeit hat, obwohl sie die Protagonistin ist. Das führt dazu, dass man als Leser keine enge Verbindung zu ihr hat, weshalb sie fast wie ein Nebencharakter wirkt, auch wenn ihr Handlungsstrang spannend ist.
Die Enthüllung des Täters erfolgt nicht plötzlich und überraschend, sondern eher wie ein Puzzle, dessen einzelne Teile sich im Verlauf immer mehr zu einem Bild zusammen fügen. Deswegen ist der Thriller auf einen literarischen Showdown angewiesen, den er auch bietet und der sehr spannend ist. Der Epilog bietet noch einen kleinen Überraschungsmoment.

Fazit

„Die Chirurgin“ ist ein guter und empfehlenswerter Medizinthriller, der beweist, dass Tess Gerritsen eine Autorin mit immensem Potenzial ist. Die Idee des Chirurgen, der jeweils halb an die Serienmörder Ted Bundy und Ottis Toole erinnert, ist bisher einzigartig in der Reihe fiktiver Mörder. Auch die Recherche, der Schreibstil und das Ende konnten überzeugen. Jedoch fehlten die Bindung zur Protagonistin und der letzte Funken Spannung, der das Buch zu einem Suchtfaktor macht. Die Liebesgeschichte dagegen war recht überflüssig und deplatziert. Trotzdem bin ich überzeugt genug, um mit der Fortsetzung „Der Meister“ weiterzumachen. „Die Chirurgin“ erhält von mir drei von fünf Federn.