Wer ist Cruella?
Meine Oktober-Rezension 2017
„Der Krieg ist eröffnet. David gegen Goliath. Jeder neue Schachzug wird Sina weiter in unsere Ecke drängen. Ich wasche mir die Hände, halte sie unter den kalten Strahl. Das Wasser läuft plätschernd über meine Finger. Ich bewege sie und mit jeder Bewegung leite ich das Wasser in eine andere Richtung. So ähnlich funktioniert das mit Sina. Sie wird uns glauben. Sie wird uns vertrauen. Und sie wird alles tun, was wir von ihr verlangen.“
Der zweite Teil von Janet Clarks Trilogie heißt „Sei lieb und büße“ und ist die Fortsetzung von „Schweig still, süßer Mund“, welches mich nur mäßig überzeugen konnte. Jedoch erzählt der 2013 erschienene Jugendthriller eine andere Geschichte, weshalb ich die Reihe trotzdem fortgesetzt habe, in der Hoffnung, dass ich hiermit mehr Spaß haben werde.
Inhalt
Die 17-jährige Sina Beckhaus muss mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder Ben von Berlin in das Dorf Kranbach ziehen, was ihr absolut nicht leicht fällt. Nicht nur, dass sie ihre beste Freundin Melle in Berlin zurück lassen muss, ihre Mutter leidet auch an einer bipolaren Störung, ihr Vater ist berufsbedingt meist tagelang außer Haus und deshalb kümmert sich Sina oft alleine um Ben. Außerdem schafft sie es nicht neue Freunde an ihrer Schule zu finden. Ihr einziger Lichtblick ist Frederik Lofer, der Trainer ihres Basketballteams, der ihre Gefühle zu erwidern scheint. Doch dann hat Frederik, kurz Rik, einen schweren Fahrradunfall und fällt ins Koma. Sina glaubt, dass der Unfall durch Fremdeinwirkung entstanden ist und stößt bei ihren Untersuchungen auf erschreckende Informationen aus Riks Vergangenheit.
Cover
Das Cover ähnelt dem von „Schweig still, süßer Mund“ sehr. Wieder der schwarze asymmetrische Rand und wieder die drohende Schrift. Anstelle von Rosen sind dieses Mal jedoch neben grünen Blättern auf weißem Grund blaue Blüten und Verzierungen illustriert. Es reiht sich perfekt in die allgemein sehr schön gestaltete Trilogie ein, aber das vom Vorgänger hat mir aufgrund der Rosenblüten doch noch ein bisschen besser gefallen.
Kritik
„Ich werde mit verzerrtem Gesicht sterben.“, lautet der erste Satz des Prologs. Es ist der letzte Tagebucheintrag von Mia Schmitt, Riks verstorbener Exfreundin, am 5. Juni 2011. Genau ein Jahr später beginnt das erste Kapitel. Die Kapitel sind, wie schon beim Vorgänger, in Handlungstage unterteilt und gehen vom 5. Juni 2012 bis zum 23. Juni 2013, wobei das letzte Kapitel als einziges im Jahr 2013 spielt. Zusätzlich gibt es nun auch Unterkapitel, insgesamt 73, bei denen meist ein Perspektivwechsel stattfindet. Auch dieses Mal gibt es drei Perspektiven: Mias Tagebucheinträge, natürlich aus der Ich-Perspektive, ab dem 3. April 2011 bis zu ihrem Todestag, dann Sina im Präsens, was übrigens eine Veränderung zum ersten Band ist, und mit personalem Erzähler sowie zum Schluss noch Tabea im Präsens und der Ich-Perspektive.
Mit Sina als Protagonistin kam ich persönlich erheblich besser zurecht als mit Jana aus „Schweig still, süßer Mund“. Sina ist ein Mädchen mit einem bunten Kleidungsstil, der sich vom jugendlichen Standard abhebt. Ihre Leidenschaft ist das Basketball spielen und sie ist die beste Spielerin der Mannschaft. Trotzdem merkt man ihr immer wieder ihre Unsicherheit im Umgang mit ihren Mitmenschen an, gerade weil sie durch eine psychisch kranke Mutter Reaktionen kaum abschätzen kann.
Mia ist ebenfalls ein sympathisches Mädchen, das in ihren Tagebucheinträgen immer wieder von Rik schwärmt. Ihr Problem ist nur, dass ihr Exfreund Riks damaliger Mitbewohner ist. Außerdem wird sie über Facebook von einer Userin namens Cruella beleidigt und bloßgestellt. Später gehen die Übergriffe sogar im realen Leben weiter. Als Sina davon erfährt, will sie herausfinden, wer Cruella ist und warum sie Mia so massiv angegriffen hat, dass diese sich letztendlich umgebracht hat.
Tabea dagegen ist absolut keine Sympathieträgerin. Nach Riks Unfall sucht sie Sinas Freundschaft, doch nicht in guter Absicht. Zusammen mit ihren Freundinnen Laureen von Wasen und Bessy wollen sie mit ihr ein falsches Spiel spielen. Außerdem wird schon anfangs stark deutlich, dass sie etwas mit Riks Unfall zu tun haben. Tabeas boshafte und arrogante Gedanken sind neben den nett wirkenden Mädchen Mia und Sina immer wieder schockierendes Kontrastprogramm.
Auch wenn Clark die Täter und Opfer schnell an Identitäten bindet, sind die Beweggründe und Tatvorgänge nicht ganz klar, wodurch trotzdem stets eine geringe Spannung erhalten bleibt. Auch die Dialoge sind dieses Mal deutlich besser, wenn auch noch nicht perfekt. An manchen Stellen wirken die Konversationen zu gekünstelt, es kristallisiert sich klar heraus, dass dies fiktive Gespräche sind, zum Beispiel als der zehnjährige Ben fragt, was ein CD-Player sei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das schon als Kleinkind wusste. Auch die Sprache war mir wieder etwas zu einfach strukturiert. Fast alle Situationen, die besonders emotional wirken sollen, sind in kurzen und abgehackten Sätzen geschrieben. Für wenige Passagen ist dies ein altbewährtes Stilmittel, aber auf Dauer werden diese Ellipsen anstrengend und verfehlen ihre Wirkung. Für kurze Zeit gut, nach fast einer Seite leider nur noch nervig.
Dass neben Oberflächlichkeit und Hinterhältigkeit auch Cybermobbing thematisiert wird, hat mir allgemein gefallen, jedoch fand ich die Darstellung äußert fragwürdig, denn die Möglichkeiten bei Facebook Konten mit falschen Identitäten zu melden, einfach nur zu blockieren oder Fotos der eigenen Person, die gegen ihren Willen hochgeladen werden wieder löschen zu lassen, werden überhaupt nicht aufgezählt. Außerdem haben Fake-Accounts nie eine so lange Freundesliste wie hier dargestellt. Streng genommen gibt es als Opfer von Cybermobbing viele Wege sich zur Wehr zu setzen, die auch Mia hätte nutzen können. Für die Überdramatisierung, die schlussendlich zum Suizid führen sollte, wäre das aber natürlich hinderlich gewesen. Es war ein netter Versuch, aber leider eine viel zu realitätsferne Darstellung von einem so großen sozialen Netzwerk wie Facebook. Hätte Clark andere Plattformen oder eine individuelle Domain verwendet, wäre die Thematisierung von Cybermobbing deutlich glaubwürdiger geworden.
Das Ende ist wesentlich gelungener als bei „Schweig still, süßer Mund“. Es hält einige Überraschungen bereit, ist weniger vorhersehbar, wenn auch nicht vollkommen unvorhersehbar, und ist insgesamt deutlich spannender als der Vorgänger. Im letzten Kapitel werden wieder hastig offene Fragen beantwortet, aber dieses Mal ist der Abschluss eindeutig stimmiger.
Fazit
Clark hat bei „Sei lieb und büße“ sicherlich nicht alles richtig gemacht, aber doch einiges besser als bei „Schweig still, süßer Mund“. Die Protagonistin ist sympathischer, der Plot interessanter und das Ende spannender. Zwar sind Sprache und Stil in meinen Augen noch ausbaufähig, sowie die Darstellung von Cybermobbing fragwürdig, aber für die Zielgruppe, Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren, ist dieser Jugendthriller empfehlenswerter als Teil eins. In der Hoffnung, dass dieses Niveau mindestens gehalten werden kann, wage ich mich auch noch an den letzten Band „Singe, fliege, Vöglein, stirb“ und gebe aufgrund der Steigerung „Sei lieb und büße“ drei von fünf Federn.