Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr
17. Juli 2018 0 Von lara

Lou und Will

Meine zweite August-Rezension 2017

Eigentlich bin ich eine dieser Personen, die um die ganz stark gehypten Bücher einen großen Bogen macht. Dann habe ich letztes Jahr im Kino „Ein ganzes halbes Jahr“ mit Emilia Clarke und Sam Claflin in den Hauptrollen gesehen und war begeistert, obwohl ich zudem überhaupt kein Fan von Liebesfilmen bzw. Liebesromanen bin. Trotzdem hab ich mir noch in der selben Woche die Buchvorlage von Jojo Moyes mit über 500 Seiten gekauft, um sie vorerst in mein Regal zu stellen und sie wieder herauszunehmen, wenn ich ein zweites Mal Lust auf die Geschichte aus dem Jahr 2015 habe. Diesen Monat war es dann soweit und ich habe tatsächlich den allerersten Liebesroman meines Lebens gelesen.

Inhalt

Die 26-jährige Louisa Clark wohnt im Februar 2009 mit ihrem Großvater, ihrer Schwester und ihrem Neffen bei ihren Eltern im englischen Dorf Stortfold. Da sich ihre Mutter um den pflegebedürftigen Großvater kümmert und nicht arbeiten gehen kann, müssen die geringen Gehälter von Vater Bernard, Schwester Katrina und Louisa, kurz Lou, ausreichen. Mit ihrem Freund Patrick ist Lou nach sieben Jahren Beziehung nicht mehr sonderlich glücklich und zu allem Übel verliert sie dann noch ihren Job im Café. Nachdem ihr alle möglichen Jobs nicht zusagen, wird ihr eine Stelle als Pflegehelferin angeboten und das Gehalt ist so gut, dass sie nicht ablehnen kann, auch wenn es für sie alles andere als ein Traumjob ist.
William Traynor, kurz Will, ist seit einem Motorradunfall vor zwei Jahren Tetraplegiker. Er weiß, dass er mit seinen 35 Jahren nie wieder das erfolgreiche und aktive Leben führen kann, das er einst hatte. Seine Eltern bemühen sich ihm Lebensfreude zurückzugeben und stellen neben dem Krankenpfleger Nathan auch eine Pflegehelferin an. Und so trifft Will auf Lou.
 

Cover

Das Cover ist mit seiner Illustration von der schwarzen Silhouette einer Frau auf schwarzem Boden ganz typisch Moyes. Hier erkennt man auf einer Blumenwiese eine Frau im Profil, die wenig Bild einnimmt, für den Betrachter die Arme nach rechts in Richtung einer Taube ausstreckt, die gerade davon fliegt. Der Hintergrund ist cremeweiß und das Cover wird von roten Mohnblumen umrandet. Es ist ein hübsch gestaltetes Cover, das sogar metaphorisch einen Hinweis auf das Ende des Liebesromans gibt.
 

Kritik

„Als er aus dem Bad kommt, ist sie wach, hat sich gegen das Kopfkissen gelehnt und blättert durch die Reiseprospekte, die neben seinem Bett gelegen haben.“, ist der erste Satz des Prologs. Hier liegt ein auktorialer Erzähler im Präsens vor. Ab dem ersten Kapitel wird dann Lou aus der Ich-Perspektive und im Präteritum das Erzählen der Geschichte übernehmen, mit Ausnahme von vier Kapiteln in denen jeweils Wills Mutter Camilla, Wills Krankenpfleger Nathan, Wills Vater Steven und Lous Schwester Katrina, kurz Treena, aus der Ich-Perspektive und im Präteritum ihre wichtigsten Ansichten preisgeben. Der Prolog spielt im Jahr 2007 und beschreibt Wills Leben mit seiner damaligen Freundin Alicia vor dem Unfall.

Die eigentliche Protagonistin ist aber Louisa Clark, die der Leser an dem Tag kennenlernt, an dem sie ihren Job im Café verliert. Ihr markantestes Merkmal ist ihre Leidenschaft für Mode. Sie trägt gerne bunte Farben und ausgefallene Muster in Kombination mit Stilbrüchen wie Militärstiefel und Minirock. Obwohl sie einen guten Schulabschluss hat, kann sie weder Studium noch Ausbildung beginnen, da ihre Familie auf ihr Einkommen angewiesen ist. Sie ist ein sympathischer, humorvoller, empathischer und leicht naiver Charakter aus sozial schwachen Verhältnissen aufgrund familiärer Schicksalsschläge wie, unter anderem, die ungewollte Schwangerschaft ihrer Schwester Treena.

Will Traynor dagegen ist beinahe das vollkommene Gegenteil von Lou. Er kommt aus einem reichen Elternhaus, in das er nach seinem Unfall gezwungenermaßen zurückkehren muss. Er wirkt auf den Leser eher streng, unnahbar und sehr diszipliniert. Sein Zynismus und Hohn machen schnell deutlich, wie unglücklich er mit seinem Leben im Rollstuhl ist. Später lernt man jedoch auch noch eine charmantere Seite von Will kennen.

Es ist klar, dass Moyes mit Lou und Will Kontraste darstellen will. Er hat Geld, Erfolg, Bildung, Reisen erlebt und gehört zur gehobenen Gesellschaft. Sie dagegen hat Geldsorgen, keine Freundinnen, keine Karriere ist noch nie weit gereist. Jedoch besitzt sie etwas, was sie zum glücklicheren Menschen macht und was sich niemand erkaufen kann: Gesundheit. Auch in der Wahl ihrer Kleidung werden die Unterschiede deutlich, genauso wie in ihren persönlichen Vorlieben oder in ihrer Wortwahl. Beide beginnen jedoch voneinander zu profitieren und den Anderen positiv zu beeinflussen, auch wenn das nicht bedingungslose Harmonie bedeutet. Sie bilden ein unglaublich interessantes Paar, von dem ich nicht genug bekommen konnte.

Extrem gut hat mir die Darstellung von Tetraplegikern gefallen. Moyes hat präzise recherchiert und thematisiert nicht allein die Tatsache, dass Betroffene an den Rollstuhl gefesselt sind und in fast jeder erdenklichen Tätigkeit pflegerische Hilfe benötigen, sondern auch die damit verbundenen Komplikationen und Folgeerkrankungen und die Demütigung, der sie in der Öffentlichkeit ausgesetzt sind, sowie psychosoziale und emotionale Faktoren. Dieser Weitblick hat erheblich dazu beigetragen, dass die Geschichte mich mitreißen konnte.

Im Buch tauchen einige zusätzliche Handlungsstränge auf, die aus dem Film geschnitten wurden und die Charaktere noch einzigartiger machen, vor allem die Familienmitglieder der Protagonisten. Streckenweise passiert im Buch auch länger inhaltlich nichts und es wird viel Alltag beschrieben, trotzdem wird es nie langweilig Lou zu folgen, denn auch die ruhigeren Stellen besitzen viel Tiefgang und es macht Spaß einfach nur zu lesen und die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen.

Viele Menschen haben dieses Buch gelesen und kennen das Ende bereits. Auch ich kannte es, da ich den Film zuerst gesehen habe. Trotzdem kamen mir in einem Kapitel tatsächlich die Tränen, obwohl ich bei Büchern sonst nie weine und ich denke, die wenigen Menschen, die das Ende noch nicht kennen, werden zutiefst berührt sein und noch länger darüber nachdenken. Es bleibt im Gedächtnis und lässt so manch einen grübelnd zurück. Besser könnte ein Ende also kaum geschrieben sein.
 

Fazit

Ich weiß auch nicht, wie ich so dumm sein konnte und dieses Buch erst zwei Jahre nach Veröffentlichung des Taschenbuches lesen. Andererseits befinde ich mich nun auch in einer literarischen Krise, da mich „Ein ganzes halbes Jahr“ so sehr verzaubert hat, dass ich das Gefühl habe, dass so schnell nichts an dieses Leseerlebnis anknüpfen kann. Es war wirklich wundervoll: Nicht schnulzig und neben einer emotionalen Geschichte auch noch informativ. Lou und Will hallen in meinem Kopf nach und ich kann mich nur mäßig dazu überwinden ein neues Buch von einem anderen Autor zu beginnen. Zwar weiß ich, dass es eine Fortsetzung namens „Ein ganz neues Leben“ gibt, aber der Klappentext und die Aussagen anderer Leser haben mich zu sehr abgeschreckt, um es mir zu kaufen. Wer das anders sieht, darf sich übrigens schon auf den dritten Teil freuen, der nächstes Jahr im Februar erscheinen soll. Für mich ist die Geschichte aber nun vollkommen erzählt. Ich fühle mich tatsächlich ein bisschen leer und dieses Gefühl konnten bisher nur sehr wenige Bücher in mir auslösen. Moyes hat es allerdings geschafft. Deswegen bleibt mir überhaupt nichts anderes übrig, als „Ein ganzes halbes Jahr“ alle fünf Federn zu geben.