Carrie

Carrie
8. Mai 2025 0 Von lara

Du wirst ihren Namen kennen

Meine Mai-Rezension 2025


Das Motto für die Lesechallenge im Mai lautet: „Lies ein Buch mit weniger als 400 Seiten“. Da hat es sich sehr gut getroffen, dass ich für meinen Wanderurlaub Ende April nach einem kleinen, dünnen und leichten Taschenbuch mit Gebrauchsspuren gegriffen habe, damit es nicht so tragisch ist, wenn neue dazukommen. Dieses Buch ist der Mysterythriller „Carrie“ von Stephen King aus dem Jahr 1977. Es war Kings Debütroman, der ihn schlagartig berühmt machte. Dabei hatte er selbst nicht an seine schriftstellerischen Fähigkeiten geglaubt. Das Manuskript von „Carrie“ hielt er für schlecht und warf es in den Hausmüll, wo seine es Frau fand, sein Potenzial erkannte und ihn ermutigte weiterzuschreiben. Dass dies der Beginn der Karriere eines der meistgelesenen und kommerziell erfolgreichsten Autoren der Gegenwart war, hätte King selbst wohl nie für möglich gehalten.

Inhalt

Die 16-Jährige Carietta White, kurz Carrie, besucht im Jahr 1979 die Ewen High School in der US-Kleinstadt Chamberlain im Bundesstaat Maine. Sie wächst bei ihrer alleinerziehenden Mutter Margret auf, denn ihr Vater ist noch vor ihrer Geburt bei einem Unfall auf einer Baustelle ums Leben gekommen. Als Carrie drei Jahre alt ist, entfesselt sie in einem Wutanfall zum ersten Mal ihre telekinetischen Kräfte und lässt Steine auf das Hausdach regnen. In der Schule wird Carrie von den anderen Mädchen gemobbt. Als sie nach dem Sportunterricht in der Dusche zum ersten Mal ihre Periode bekommt und in Panik gerät, weil sie darüber nicht aufgeklärt ist, eskaliert die Situation. Sie wird von ihren Mitschülerinnen so stark gedemütigt und ausgelacht, dass sie nun völlig ausgeschlossen ist. Als Reaktion auf die Hänseleien entfesselt sie seit 13 Jahren wieder unbewusst ihre Telekinese. Zum ersten Mal in ihrem Leben wird ihr ihre übernatürliche Fähigkeit bewusst und sie realisiert, dass sie nun nicht länger das Opfer sein muss.

Cover

„Carrie“ ist beinahe 50 Jahre alt und hat entsprechend viele verschiedene Cover gehabt, insbesondere wenn man auch die internationalen Ausgaben berücksichtigt. Ich habe eine uralte Taschenbuch-Ausgabe aus dem Jahr 1991, auf dessen Cover eine Frauengesicht ist, in dem eine Wiese und auf der Stirn Bäume abgebildet sind. Abgesehen vom Frauengesicht und der Tatsache, dass die Hauptfigur hier weiblich ist, gibt es keinen Bezug zu der Geschichte. Aufgrund seiner Hässlichkeit und Abgenutztheit werde ich dieses Buch demnächst zu einem Bücherschrank bringen. Die meisten anderen Cover zeigen ein blutüberströmtes Mädchen oder einen roten, blutgetränkten Stoff, die wohl ikonischste Szene des Werkes. Das aktuelle deutsche Cover kontrastiert mit rot und schwarz die Silhouette eines dünnen Mädchens mit langen Haaren, das am Ende einer typisch US-amerikanischen, kleinstädtischen Straße mit Strommasten, Bäumen und einem holzverkleideten Haus steht. Obwohl Carrie im Buch nicht als schlank beschrieben wird, finde ich diese Ausgabe doch am schönsten.

Kritik

„Notiz in der Wochenzeitung Enterprise vom 19. August 1966: STEINREGEN GEMELDET.“, ist der erste Satz des ersten Teils Blutsport. Der kurze Zeitungsartikel beschreibt ein mysteriöses Ereignis, in dem das Haus von Margret White von einem Steinhagel getroffen wurde, wobei einige Dachziegel beschädigt wurden. Dass es sich dabei um das erste Mal handelt, dass Carrie ihre Telekinese nutzt, wird jedoch erst später deutlich. Interessant ist dabei auch, dass Margret White laut Zeitung nicht dazu bereit war, sich zu dem Vorfall zu äußern, als wisse sie mehr darüber, als sie preisgeben will. Der Thriller ist bei nicht einmal 250 Seiten in die beiden Hauptteile Blutsport und Ballnacht sowie in den Epilog Trümmer gegliedert. Kapitel gibt es keine, dafür aber einen fragmentarischen Erzählstil mit zahlreichen Absätzen, die sich als Lesepausen eignen.

Carrie White ist die Protagonistin dieses Thrillers, die trotz ihrer übernatürlichen Fähigkeiten wie eine Antiheldin dargestellt ist. Sie sei „ein rundliches Mädchen“ (S. 6) mit blasser Haut und fahlem Haar. Mit ihrer altmodischen, oft selbstgenähten und sehr biederen Kleidung wirke sie wie „ein Frosch unter Schwänen“ (S. 6). Ihr plumpes, ungepflegtes und unbeholfenes Erscheinungsbild mache sie zur „ewige[n] Zielscheibe des Spottes“ (S. 6). Sie hat aufgrund des Mobbings ein geringes Selbstwertgefühl und strahlt eine Schüchternheit sowie Ängstlichkeit aus, die sie noch mehr zum „Opfertier“ (S. 6) mache. In ihr schlummert aber auch viel unterdrückter Zorn, nicht nur ihren Klassenkameradinnen, sondern auch ihrer fanatisch religiösen Mutter gegenüber. Weder zuhause noch in der Schule erfährt Carrie Anerkennung, Zuneigung oder Normalität. In Kombination mit ihrer Telekinese, die sie im Verlauf des Buches immer mehr zu kontrollieren lernt, wird sie so zu einer tickenden Zeitbombe. Dabei ist sie Opfer und Täterin zugleich: Nach der Ballnacht wird sie den Menschen als zerstörerisches Monster in Erinnerung bleiben, dabei war sie bloß ein verletztes Mädchen, das sich nichts sehnlicher als Zugehörigkeit wünschte und von ihrer Umwelt nahezu zu ihrem Akt der Vergeltung gedrängt wurde. Kurzum, Carrie ist eine komplexe und vielschichtige Figur, deren Schicksal viel Interpretationsfreiraum lässt.

King nutzt eine nichtlineare Erzählweise durch den fragmentarischen Schreibstil, weshalb es von vorneherein epische Vorausdeutungen bzw. Forshadowing gibt. Der Verlauf des Plots ist also von Anfang an recht klar und da es in der narrativen Intention liegt, regelmäßig auf die Katastrophe in der Ballnacht anzuspielen, halte ich diese für keinen Spoiler. Es geht nicht darum, was passiert, sondern warum es passiert. Die Erzählfragmente bestehen aus einer Mischung aus Zeitungsartikeln, Tagebucheinträgen, Biografien, wissenschaftlichen Sachbüchern, Zeugenaussagen, Fernschreibermeldungen, aber auch klassischen Erzählungen aus der auktorialen Perspektive. Dabei bedient sich King auch immer wieder dem Stilmittel des stream of consciousness, das den ungefilterten Gedankenfluss einer Figur so realitätsnah wie möglich abzubilden versucht, inklusive assoziativen Sprüngen, plötzlichen Einwürfen oder grammatikalisch unvollständigen Sätzen. King versteht es, mit einer knappen und direkten Sprache Spannung aufzubauen und eine beklemmende Stimmung zu erzeugen, die nicht nur unterschwellig von Gewalt geprägt ist. Carries emotionale Ausnahmezustände sind nachvollziehbar. Sie wirkt trotz ihrer übermenschlichen Kräfte immer noch menschlich. Insgesamt ist Kings Schreibstil außergewöhnlich gut, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass dies sein Debütroman ist.

Besonders interessant ist auch Carries schwierige Beziehung zu ihrer Mutter. Margret ist eine fanatische Christin, die ihr ganzes Leben nach der Ausübung ihrer Religion richtet. Überall im Haus liegen Bibeln und Traktate aus, es gibt eine Gebetskammer und Weihwasser, aber keine großen Spiegel, da Eitelkeit eine Todsünde ist. Gekrönt wird das Ganze von einem riesigen Kruzifix, das an der Wohnzimmerwand angebracht ist. Margret sieht Carrie als Strafe dafür, mit ihrem Ehemann gesündigt zu haben. Alles, was mit Sexualität und Weiblichkeit zu tun hat, ist für sie ein „Werk des Teufels“ und so hat Margret bereits zweimal versucht, Carrie umzubringen: einmal kurz nach Carries Geburt und einmal, nachdem Carrie mit drei Jahren das erste Mal unbewusst Telekinese nutzt. Ab diesem Zeitpunkt ist Margret überzeugt, dass ihre Tochter eine Teufelsbrut und die Strafe für ihre Wollust ist. Eigentlich ist es Margret, die seitdem panische Angst vor ihrer Tochter hat. Um sie jedoch zu kontrollieren, erzieht sie Carrie mit sadistischen und angsterfüllenden Methoden. Sie wird gezwungen, keusche und unförmige Kleidung zu tragen, darf nicht mit ihren Mitschülern ausgehen und wird zur Strafe regelmäßig in der Gebetskammer eingesperrt, wo sie Buße tun soll. Dabei ist es für Margret bereits Anlass zur Strafe, dass Carrie während ihrer Pubertät Brüste wachsen, denn alles Weibliche wird durch die Erbsünde im Christentum verteufelt. Dass Carrie demzufolge nicht über den weiblichen Körper aufgeklärt ist und in Panik gerät, als die das erste Mal menstruiert, macht sie neben ihrer Kleidung und der Isolation zusätzlich zum Opfer ihrer Altersgruppe. Es ist vor allem Margrets Schuld, dass Carrie keinen Anschluss findet und sich nicht persönlich entwickeln kann. Carrie ist jedoch emotional, finanziell und sozial abhängig von ihrer Mutter. Das Verhältnis ist von einer Ambivalenz geprägt, in der sich Carrie gleichermaßen unterwürfig als auch rebellisch zeigt. Als Carrie dann ihre telekinetischen Fähigkeiten entdeckt, gelingt es ihr, die toxische Beziehung zu durchbrechen und das Machtgefälle zu kippen. Es geschieht genau das, wovor Margret White immer Angst hatte, dabei war sie diejenige, die Carries Ausbruch forciert hat. In ihrem religiösen Fanatismus denkt Margret wohl bis zuletzt, dass ihre Tochter das Böse ist, und dass sie mit ihrer herzlosen Erziehung im Recht war.

Während Margret die telekinetischen Fähigkeiten ihrer Tochter als dämonisch, sündhaft und vom Teufel gesandt betrachtet, versuchen die fachlichen Artikel, die in das Buch eingebettet sind, Telekinese zu verwissenschaftlichen. Das klappt mal mehr, mal weniger gut. So wird die Telekinese bspw. als gonosomal-rezessiver Erbgang dargestellt, der nur bei Frauen auftritt. Tatsächlich würde ein X-gonosomal-rezessiver Erbgang aber überwiegend bei Männern auftreten, da diese nur ein X-Chromosom haben. Bei Frauen würde sich die Telekinese nur dann durchsetzen, wenn beide X-Chromosome das entsprechende Gen tragen, die Frauen also homozygot sind. Letztendlich wird sich nicht darauf festgelegt, ob die Telekinese ausschließlich rezessiv, oder teilweise nicht doch dominant vererbt wird. Beachtlich ist jedoch, dass King diese Fähigkeit allein Frauen zuschreibt und Männer bewusst exkludiert. Man könnte diese Passagen als pseudowissenschaftlich abtun, aber der Versuch, Telekinese mithilfe von Genetik, Neurologie und Anatomie zu erklären, lässt die Mystery mit der realistischen Beschreibung einer US-amerikanischen Kleinstadt verschwimmen. Es sind solch kleine Details, die „Carrie“ zu einem außergewöhnlich immersiven Erlebnis machen.

Ein paar letzte Worte muss ich noch kurz über die Neuverfilmung von 2013 verlieren. Vor einigen Jahren habe ich den Film zufällig im Fernsehen gesehen, weshalb ich vor dem Lesen schon wusste, wie die Geschichte endet. Bei Rotten Tomatoes hat Carrie lahme 51% und überwiegend negative Kritiken erhalten. Dabei ist er mit Chloë Grace Moretz als Carrie, Julianne Moore als Margret oder Ansel Elgort als Tommy Ross stark besetzt. Ich persönlich fand den Film gar nicht schlecht, zumindest bis zum Racheakt Carries. Hier kippt er förmlich in ein anderes Genre, wobei die blutigen Szenen teilweise unfreiwillig komisch sind. Am lächerlichsten ist die Stelle, wo Carrie durch Telekinese ein Auto in die Luft hebt, der Fahrer Gas gibt, und das Auto schwebend ein Stück nach vorne fährt, bevor Carrie es stoppt. Wie soll das Auto ohne Untergrund bitte vorwärts fahren können? Die Räder würden doch einfach nur in der Luft durchdrehen! Der Film weicht an manchen Stellen zudem unnötig vom Buch ab, bspw. trägt Carrie im Film ein zartrosa Ballkleid, während es im Buch weinrot ist. Außerdem ist das Setting modernisiert, so wird Carries Menstruation von einer Mitschülerin gefilmt und das Handyvideo kursiert in der High School. Auch wenn der Film einiges richtig macht, ist er also nur halb empfehlenswert.

Das Ende ist tragisch, aufwühlend und spannend bis zur letzten Seite. Ich war fassungslos, als ich gesehen habe, dass „Carrie“ fast 50 Jahre alt ist, denn es ist sowohl sprachlich als auch inhaltlich zeitlos. King gibt Female Rage einen Raum, lange bevor es zum Trend wurde. Wer denkt, dass „Carrie“ lediglich bluttriefender Horror sei, der irrt sich. Mich hat das Buch auch einige Tage, nachdem ich es beendet hatte, noch beschäftigt.

Fazit

Inzwischen habe ich drei Bücher von Stephen King gelesen, und „Carrie“ ist für mich bislang das beste. Carrie ist eine komplexe Protagonistin, die trotz ihrer übermenschlichen Fähigkeiten immer noch menschlich wirkt. Der fragmentarische Erzählstil überzeugt auf ganzer Linie und Kings erschreckend guter Schreibstil trägt dazu bei, die Spannung bis zum Schluss zu halten. Es ist unglaublich, dass King selbst das Manuskript weggeworfen hätte, aus dem letztendlich sein geniales Debüt wurde. In „Carrie“ geht es um mehr als einen blutigen Racheakt: Es handelt von Ausgrenzung, religiösem Fanatismus, der widersprüchlichen gesellschaftlichen Frauenrolle und weiblicher Selbstermächtigung. Egal, ob die Beziehung zu ihrer Mutter oder die Frage, inwiefern Carrie an der Katastrophe Schuld trägt, „Carrie“ ist durchzogen von einer ambivalenten Vielschichtigkeit. Für mich ist der Mysterythriller aus dem Jahr 1977 ein überraschendes Highlight geworden. Deshalb erhält es von mir alle fünf Federn. Von King habe ich noch „Shining“ und „The Green Mile“ auf dem SuB, die ich in den nächsten Jahren auf jeden Fall auch noch lesen will.