Zerbrochen

Zerbrochen
22. April 2024 0 Von lara

Der Darkroom-Killer geht um

Meine April-Rezension 2024

Das Motto der Lesechallenge im April lautet: „Egal, ob Ostergeschenk oder eine Freude zwischendurch – Lies ein Buch, das du geschenkt bekommen hast“. Für mich kein Problem, denn ich habe locker eine Handvoll Bücher auf dem SuB, die ich geschenkt bekommen habe. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen entschuldigen, die mir vor Jahren ein Buch geschenkt haben, das ich vielleicht immer noch nicht gelesen habe (ist nichts Persönliches, ich habe einfach zu viele ungelesene Bücher). Es hat sich sehr gut getroffen, dass ich dieses Jahr die Abel-Reihe von Michael Tsokos begonnen habe, denn den dritten Band „Zerbrochen“ habe ich von meiner Mama zu Weihnachten geschenkt bekommen. Das war übrigens 2018! Meine Mama wusste, dass ich die Sachbücher des Rechtsmediziners Professor Tsokos gerne gelesen habe, weshalb sie mir diesen True-Crime-Thriller geschenkt hat. Was sie nicht wusste: „Zerbrochen“ ist der dritte Band einer Reihe, von dem ich damals weder den ersten noch den zweiten hatte. Zugegeben, auf dem Umschlag gibt es nicht einmal den kleinsten Hinweis darauf, dass das hier eine Fortsetzung ist. Deswegen musste ich mir also erst einmal die ersten Bände „Zerschunden“ und „Zersetzt“ besorgen, wenn ich mich nicht spoilern wollte. Die Lesechallenge ist die perfekte Gelegenheit, diese SuB-Leiche von 2017 zu befreien.

Inhalt

Der 46-jährige Rechtsmediziner Dr. Fred Abel, der in Berlin für das BKA arbeitet, ist gerade so dem Tod von der Schippe gesprungen. Nachdem ihm zwei Schlägertypen auflauerten und einen Schädelbasisbruch zufügten, kämpfte er im Krankenhaus wochenlang um sein Überleben. Noch immer leidet er unter den Folgen des schweren Angriffs, doch für Ruhe hat er keine Zeit. In Berlin geht ein Serienmörder um, dessen Opfer junge Männer in Schwulenbars sind, die mit K.O.-Tropfen betäubt und dann ausgeraubt werden. Meist sterben die jungen Männer an der Überdosis des Mittels, da sie im Darkroom stundenlang bewusstlos gelegen haben. Hauptverdächtiger ist der Chemielehrer Jörg Halfter, der sich selbst an „Walter White von Wedding“ feiert, dem Protagonisten von Breaking Bad. Außerdem kommen Abels Kinder, die 16-jährigen Zwillinge Manon und Noah, von denen Abel erst seit einigen Monaten weiß, aus Guadeloupe zu Besuch. Doch das Familienidyll währt nicht lange, als die beiden Teenager am helllichten Tag aus einem Café entführt werden. Abel vermutet, dass der Entführer der untergetauchte Jörg Halfter ist, um die Ermittlungen im Fall des Darkroom-Killers zu boykottieren. Zum Glück wird Abel von seinem alten Freund Lars Moewig unterstützt, denn eine Spur führt zudem in das Heimatland der Zwillinge. Das macht die Entführung zu einem Spiel um Leben und Tod.

Cover

Das Cover präsentiert sich, wie auch die anderen der Reihe in einem Mausgrau mit schwarzweißen Kontrasten. Es zeigt die Nahaufnahme eines Knochens, vermutlich das Hinterhauptbein des Schädels, der von Rissen durchzogen ist. Wahrscheinlich ist dies eine Anspielung auf den Schädelbasisbruch, den Abel im Epilog von „Zerschunden“ erlitten hat. Ich mag das Cover einerseits wegen der Härte und Kälte, die es ausstrahlt, andererseits glaube ich nicht, dass das Cover ein Blickfang ist.

Kritik

„Das Sonnenhoch ,Boris‘ hatte Berlin seit Wochen im Griff.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels. Wie schon „Zerschunden“ ist „Zerbrochen“ so ein typischer Hochsommer-Thriller. Die Sonne brennt auf den Berliner Asphalt, die schweißnasse Kleidung klebt am Körper, die Atmosphäre ist drückend und die Geduldsfäden der Menschen kurz. Die Handlung spielt nun knapp ein Jahr nach dem ersten Band, weshalb mir sofort wieder die Frage aufkam: Gibt es wieder einen Kalenderfehler? Lassen sich Datum und Wochentag mit einem potenziellen Handlungsjahr in Einklang bringen? Wer meine letzte Tsokos-Rezension gelesen hat, weiß: Bei „Zersetzt“ gab es diesen Fehler bereits. Aufgrund verschiedener politischer und technischer Merkmale lässt sich der Beginn des Handlungszeitraums der Vorgeschichte „Zersetzt“ auf 2011-2016 eingrenzen. Das einzige Jahr, in dem Datum und Wochentag für „Zerschunden“ passen, ist 2015. Demnach müsste „Zersetzt“ also 2014 und „Zerbrochen“ 2016 spielen. Aber weder die in „Zersetzt“ angegebenen Wochentage noch die in „Zerbrochen“ passen zum jeweiligen Datum in diesem Jahr. Das erste Kapitel von „Zerbrochen“ spielt am Freitag, dem 9. Juli. Der 9. Juli 2016 war allerdings ein Samstag. Also ja, auch hier gibt es wieder den Kalenderfehler. Ist das für den Thriller jetzt relevant? Eigentlich nicht. Aber es unterstreicht den Eindrucks eines eher schludrig konzipierten Thrillers. Aber dazu später mehr.

Im Fokus des Plots steht die Entführung von Dr. Abels Zwillingen, von deren Existenz er erst seit einigen Monaten weiß. Die beiden sind aus einer kurzen, aber leidenschaftlichen Affäre hervorgegangen, die Fred auf einer Tagung in Paris mit einer Latina namens Claire Borel hatte. Der ganze Thriller dreht sich um die Fragen: Wer hat die Kinder entführt? Wer hatte sowohl das Motiv als auch die Mittel dafür? Und wird Abel sie jemals lebend wiedersehen? Das könnte sich spannend entwickeln, gäbe es dabei nicht zwei Probleme. Erstens: Die Leserschaft hat kaum die Möglichkeit, Manon und Noah genauer kennenzulernen. Sie kommen zu Besuch nach Deutschland, verhalten sich zu Beginn nicht gerade sympathisch und werden kurz darauf gekidnappt. Mit ihnen mitzufühlen, mitzuleiden oder gar mitzufiebern wird der Leserschaft dadurch unnötig schwer gemacht. Möglicherweise hätte der Leser erst einmal die Zeit haben sollen, beide im dritten Band näher kennenzulernen. Die Entführung hätte dann Grundlage für Band 4 sein können. Mir persönlich ist immer wieder aufgefallen, wie nüchtern ich den Thriller mangels emotionalen Bezugs zu den Zwillingen gelesen habe. Zweitens: Dadurch, dass es hier quasi nur um die Entführung geht und der Darkroom-Killer schnell ein Gesicht erhält, geht es in diesem Buch so wenig um Rechtsmedizin wie in keinem anderen Band der Abel-Reihe. Damit verspielt der Thriller sein größtes Ass: die rechtsmedizinische Expertise von Michael Tsokos. Gerade das fachliche Wissen, das man ganz nebenbei aufschnappt, hat die Reihe doch so interessant gemacht. Ein Rechtsmediziner, der Thriller schreibt? Erzähl mir mehr! Dass er dann einen mittelmäßigen Plot und quasi kein medizinisches Wissen auftischt, ist doch recht enttäuschend.

Der Schreibstil ist nüchtern, die Sprache einfach und das Tempo zügig. Die sommerliche Atmosphäre ist drückend und schwer. Man liest diesen Thriller flüssig runter, aber dennoch fehlt es hier erstaunlich an Spannung, auch weil es im Vergleich zu den Vorgängern eher unblutig bleibt. Der Plot wirkt zu konstruiert, zu generisch und zu vorhersehbar, da alle anderen Optionen, wer der Entführer sein könnte, völlig hanebüchen sind. Ich musste mich also durch über 400 Seiten quälen, nur um meine Hypothese bestätigt zu sehen. Bis zum Schluss hat sich bei mir keine Sogwirkung entfaltet. Und von den Logikfehlern wie der klischeebelasteten Spritze, die in den Hals gerammt wird oder von Abels „Bauchgefühl“, das ihn wie von Zauberhand stets zur Lösung des Falls führt, habe ich noch gar nicht gesprochen. Auch dass Abels Lebensgefährtin Lisa sich darüber freut, dass er Kinder aus einer früheren Liebschaft hat, ist vielleicht nicht besonders glaubwürdig. Jede andere Frau hätte vermutlich ein Problem damit, wenn der Partner plötzlich mit wildfremden Teenagern um die Ecke käme, die er mal in einem Hotelzimmer in Paris gezeugt hat. Die wunderschöne, erfolgreiche und perfekte Lisa macht daraus aber natürlich kein Drama, sondern schließt die Kinder sofort in ihr Herz. Generell ist sie mir, selbst als Nebenfigur, zu eindimensional und perfekt. Um es hart, aber ehrlich zu formulieren: „Zerbrochen“ ist einer der langweiligsten Thriller, den ich seit langer Zeit gelesen habe.

Fazit

Puh, mit der Abel-Reihe von Michael Tsokos werde ich mich in diesem Leben wohl nicht mehr anfreunden. „Zerbrochen“ stellt für mich bisher sogar den Tiefpunkt dar. Ein uninteressanter Plot über die Entführung von zwei Figuren, zu denen jede Bindung fehlt, der Mangel an rechtsmedizinischen Informationen sowie teilweise hanebüchenen Wendungen, machen den dritten Band nicht gerade zu einem spannenden Erlebnis. Hinzu kommt der Kalenderfehler sowie der generelle Eindruck, dass der Plot schludrig zusammengezimmert wurde. Schreibstil, Sprache und Tempo sind in Ordnung, aber eine Sogwirkung blieb bis zuletzt aus. Der dritte Band von 2017 lässt sich gut nebenbei weglesen, vielleicht aber auch, weil es sich kaum lohnt, länger darüber nachzudenken. Kurzum, mehr als zwei Federn hat dieser recht vergessenswerte True-Crime-Thriller nicht verdient. Er war keine Vollkatastrophe, aber auch nicht mehr als einigermaßen akzeptabel. Ich werde die Abel-Reihe sicherlich nicht weiterverfolgen und bin froh, dass ich keine weiteren Bücher davon habe. Ob ich in Zukunft überhaupt noch weitere Bücher von Tsokos lesen werde, weiß ich nicht. Aktuell habe ich zumindest keine auf dem SuB.