Die Begabte

Die Begabte
22. Juni 2022 0 Von lara

Fantasy mit Steampunk-Charme

Meine Juni-Rezension 2022

Trudi Canavan gehörte in meiner Jugend zu meinen liebsten Autorinnen. Mit „Die Gilde der schwarzen Magier“ und „Das Zeitalter der Fünf“ hat sie meine große Leidenschaft für Literatur entfacht. Es war das erste Mal, dass ich auch die „dicken Schinken“ verschlungen habe. Nach der Schule schnell essen, Hausaufgaben machen und dann sofort weiterlesen. Das hat damals vor allem die Geschichte um Canavans berühmteste Figur Sonea geschafft. Nun ist die australische Fantasy-Autorin zurück mit ihrer Reihe „Die Magie der tausend Welten“. Sie wurde 2020 als Tetralogie abgeschlossen, ich kam aber jetzt erst dazu, diese High Fantasy-Saga zu lesen. Da ich zuletzt vor acht Jahren ein Buch von Canavan gelesen habe, habe ich mich ganz besonders auf ein Wiedersehen mit ihren genialen Werken gefreut. Der erste Band heißt „Die Begabte“ und ist 2014 erschienen.

Inhalt

Der junge Magier und Archäologie-Student Tyen Eisenschmelzer findet auf einer Exkursion ein magisches Buch. In Gedanken kann er mit ihm sprechen, da die Antworten wie von Zauberhand auf den Seiten erscheinen. Schnell findet er heraus, dass das Buch Pergama heißt und vor über 1000 Jahren eine Frau war, die durch einen bösen Fluch in ein Buch verwandelt wurde. Pergament und Leder waren ihre Haut, die Nähte ihre Haare, der gehärtete Einband ihre Knochen. Pergama kann die Gedanken jedes Menschen lesen, der sie berührt, und verinnerlicht diese. Deswegen ist Pergama ein magisches Buch voller Wissen. Tyen weiß, dass der Fund Pergamas ihn zum bedeutendsten Archäologen seiner Zeit machen könnte, wenn er es an der Akademie präsentieren würde. Doch mit der Zeit sympathisiert er immer mehr mit Pergama und fragt sich, ob er sie wirklich aushändigen soll, oder lieber versuchen möchte, die Frau von ihrem grausamen Fluch zu befreien.

Cover

Die Illustration der Ganzkörperdarstellung einer Magierin mit Kapuze vor einem schlichten Hintergrund scheint inzwischen Canavans Markenzeichen zu sein. Dieses Mal trägt die Frau einen weißen engen Ganzkörperanzug mit einem weiten Tuch um die Hüfte, das mit einer hellblauen Schnalle zusammengehalten wird. Die Schnalle findet sich auch an ihrem Hals wieder. Das Gesicht lässt sich durch die tief liegende Kapuze nicht erkennen. Mit ihrer linken Hand erzeugt sie einen Magieball, um den sich ein strahliges Dreieck in Hellblau zieht. Um dieses Dreieck und an dessen Spitzen befinden sich Kreise und Runen, die in einem großen Kreis hinter der Magierin münden, sodass ein kleinerer Kreis hinter ihrem Kopf wie ein Heiligenschein aussieht. Ich persönlich finde das Cover recht einseitig, auf den zweiten Blick aber schön detailliert. Bei Canavan ist das Cover für mich aber ohnehin nicht ausschlaggebend.

Kritik

„Die starren, verwelkten Finger des Leichnams gaben sein Eigentum nur widerstrebend her.“, ist der erste Satz des ersten Kapitels. Ein klassischer Hook, also ein „Haken“, der die Leserschaft in das Buch ziehen soll wie einen Fisch aus dem Wasser. Ein simples, aber gut funktionierendes Mittel. Das erste Kapitel wird aus der personalen Perspektive des Protagonisten Tyen geschildert, der dem Leichnam in einer Höhle einen Beutel abnimmt, in dem sich ein magisches Buch befindet. Typisch für Canavan wird der gesamte Roman im Präteritum erzählt. Das High Fantasy-Werk ist ein ordentlicher Schinken. Es hat über 650 Seiten und 48 Kapitel, welche in insgesamt 11 Teile aufgespalten sind. Hier kommt jetzt der Clou: „Die Begabte“ erzählt nicht nur die Geschichte von Tyen, sondern auch in einem zweiten Erzählstrang die von Rielle Lazuli, der Tochter einer Färberfamilie. Rielles Geschichte hat vorerst überhaupt nichts mit Tyen zu tun. Sie leben augenscheinlich nicht einmal in der selben Welt, vielleicht nicht einmal zur selben Zeit. So hat man das Gefühl zwei völlig voneinander unabhängige Geschichten zu lesen. Dabei sind die Erzählstränge innerhalb der 11 Teile gegliedert. Den ersten Teil erzählt Tyen, den zweiten Rielle, den dritten wieder Tyen, und so weiter. Man könnte also auch zuerst nur die ungeraden Teile und dann die geraden lesen, um den springenden Wechsel zwischen den Erzählern zu vermeiden. Teilweise erstrecken sich die Teile über 100 Seiten, zum Ende hin werden sie jedoch immer kürzer. Dabei werden die Kapitel auch sehr interessant gezählt. Streng genommen sind es nämlich nicht 48 Kapitel, sondern zweimal 24, da pro Protagonist jeweils die Hälfte numerisch aufgeführt ist. So kommt es also dazu, dass man nach Kapitel 16 von Tyen Kapitel 11 von Rielle liest.
Der männliche Protagonist Tyen Eisenschmelzer ist ein junger Student um die 20 Jahre, wobei das genaue Alter nicht genannt wird. Auch das körperliche Erscheinungsbild von Tyen wird kaum beschrieben, sodass das meiste der Fantasie der Leserschaft überlassen wird. Tyen ist ein zurückhaltender, intelligenter und mitfühlender junger Mann, der mich persönlich irgendwie an Newt Scamander aus „Phantastische Tierwesen“ erinnert hat. Er macht sich stets Gedanken um das Wohlergehen seiner Mitmenschen und hilft ihnen auch dann, wenn er sich dabei einem gewissen Risiko aussetzt. Sein Hobby ist es Insektoide herzustellen, also kleine Roboter, die wie Insekten oder Spinnen aussehen. Fast immer ist sein liebster Insektoid Käfer dabei, der Befehlen Folge leisten und somit zum Beispiel Wache schieben kann. Kurzum, Tyen ist sehr sympathisch, aber manchmal zu nachsichtig mit seinen Mitmenschen.
Durch Pergama, das Buch, das Tyen auf der Expedition findet, erfährt er, dass es tausende von Parallelwelten gibt. Sehr mächtigen Magiern soll es sogar möglich gewesen sein, durch diese Welten zu reisen. Tyens Welt hat zwar keinen Namen, er lebt aber in einem Land namens Leratia. Dort studiert er an der Akademie der Hauptstadt Belton. Die Welt, in der Tyen lebt, lässt sich kurz zusammenfassen als vorindustriell mit magischen Elementen. Im Großen und Ganzen hat Tyens Welt Steampunk-Vibes mit einer ordentlichen Prise Fantasy. Es gibt zwar Maschinen, die die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben, diese werden allerdings mit Magie betrieben. Deswegen bedarf es Magier, die diese Maschinen bedienen. Ähnlich wie bei „Das Zeitalter der Fünf“ gewinnen Magier die Magie dadurch, dass sie diese aus der Luft in ihrer nächsten Umgebung ziehen. Irgendwann ist diese Magie verbraucht. Um also weiterhin Magie zu wirken, muss man entweder seinen Standort um einige Meter wechseln oder warten, bis die Magie selbstständig wieder an der Ort zurückgeflossen ist. Was in dieser Reihe neu ist, ist dass durch den Verbrauch von Magie sogenannter Ruß, beziehungsweise Schwärze entsteht. Es ist eine gasförmige schwarze Substanz, die nur magisch Begabte sehen können. Durch den zunehmenden Bedarf an Maschinen wird der Ruß allerdings zunehmend zu einem Problem. Gerade in Ballungszentren wie Belton geht die Magie immer weiter zu Neige und wird durch Ruß ersetzt, der in der Großstadt omnipräsent ist, ähnlich wie Smog in der realen Welt. Die Auswirkungen von Ruß auf Menschen und Umwelt ist in Tyens Welt noch weitgehend unerforscht. Typisch für Canavan wird hier also wieder Sozialkritik ausgeübt, im weitesten Sinne auch am Klimawandel, denn: Maschinen führen zu Problemen, trotzdem wird nicht adäquat damit umgegangen. In Tyens Welt ist es beispielsweise Magiestudenten verboten, außerhalb des Geländes der Akademie zu zaubern, um nicht unnötig Magie zu verbrauchen. Auch mit der Emanzipation ist es in beiden Welten nicht weither, auch wenn die Situation in Tyens Welt etwas besser ist. So dürfen Frauen zwar auch an der Akademie studieren, sie werden aber gesondert von den männlichen Studenten untergebracht und unterrichtet. Außerdem machen sie nur einen geringen Anteil der Studierenden aus, und müssen zudem ein Käppchen tragen, das ihre Keuschheit symbolisiert, um anzuzeigen, dass sie kein Interesse an ihren männlichen Kommilitonen haben, sondern ausschließlich zum Studieren die Akademie besuchen. In Tyens Welt gibt es außerdem fantastische Fauna und Flora, wie zum Beispiel Morni, welche Tiere sind, die in Belton die Kutschen ziehen. Auch kulturell gibt es Unterschiede. So ist ein beliebtes alkoholisches Getränk der sogenannte Staubi, der sich für mich aber eher nach einer pulverisierten Droge anhört. Das ist aber in erster Linie der Übersetzung zuzuschieben.
Canavans Schreibstil fühlt sich für mich einfach wie nach Hause kommen an. Die Sprache ist lebhaft, klar und authentisch. Es gibt hier und da kleinere Schnitzer, die mir aber schon in ihren vorherigen Werken aufgefallen sind, allem voran „die Achseln zucken“, was recht häufig vorkommt, und auf mich einfach merkwürdig wirkt. Warum hat sich die Übersetzerin hier nicht für „die Schultern zucken“ entschieden, denn die Achseln zucken klingt, als würde man unwillkürliche Zuckungen in der Achselhöhle haben. Generell sind die stilistischen Patzer eher der Übersetzerin zuzuschreiben, als der Autorin. So hat sie beispielsweise auch recht ungeschickte Phrasen wie die „wahren Motive der Wahrheit“eingebunden. Insgesamt ist die Atmosphäre aber prima abgebildet. In Canavans Welt zu schlüpfen fühlt sich für mich immer wie eine zweite Haut an. Dennoch lässt das Tempo manchmal, auch typisch für Canavan, etwas zu wünschen übrig. Sie verliert sich in teilweise alltäglichen Szenen, die zwar nett sind, den Plot aber in die Länge ziehen und letztendlich dazu führen, dass ihre Bücher nun einmal die dicken Schinken sind, die sie sind.
Das Ende ist allerdings wieder fulminant spannend und macht sofort Lust, zum zweiten Band zu greifen. Jedoch ist Tyens Erzählstrang in seiner Gesamtheit spürbar stärker als der von Rielle, auch wenn letzter kein Reinfall ist. Tyens Plot ist raffinierter und unvorhersehbarer. Ich bin aber vor allem gespannt, wie diese zwei Erzählstränge, die bis zuletzt nichts miteinander zu tun haben, zusammengeführt werden.

Fazit

Mir war gar nicht bewusst, wie sehr mir die Bücher von Trudi Canavan gefehlt haben, bis ich mit „Die Begabte“ seit Ewigkeiten wieder eines gelesen habe. Im Großen und Ganzen wurde ich nicht enttäuscht. Canavan kreiert Szenarien, die außergewöhnlich, atmosphärisch und einzigartig sind. Geschickt bindet sie moderne Sozialkritik in ihre High Fantasy-Welten ein, und erschafft so eine fesselnde Geschichte mit einer wunderbaren Tiefe. Getrübt wird das Ganze nur leicht von einer Sprache, die nicht zuletzt wegen ihrer mäßig guten Übersetzung aneckt, ein paar Längen und einer Protagonistin, die neben der männlichen Hauptfigur ein wenig blass aussieht. Man sollte sich außerdem bewusst sein, dass man hier zwei voneinander unabhängige Geschichten aufgetischt bekommt. Meine Erwartungshaltung bleibt dennoch hoch, denn die Geschichte hat viel Potenzial. Vor allem wird es spannend zu erfahren, wie Canavan beide Erzählstränge zusammenführen wird. Eine Theorie hätte ich dazu schon. Ich hoffe sehr, dass sich „Die Magie der tausend Welten“ noch steigern kann. Der erste Band aus dem Jahr 2014 bekommt von mir also hoffnungsvolle drei von fünf Federn. Als Nächstes werde ich die Fortsetzung „Der Wanderer“ lesen.