I’m a Nurse

Die Lüge von patientenorientierter Medizin
Meine zweite Oktober-Rezension 2025
Das Motto für die Lesechallenge im Oktober lautet: „Lies ein Buch, das außerhalb deiner Komfortzone liegt.“ Da ich viel querbeet lese, ist das gar nicht so einfach. Ein Buch in meinem Regal ist mir bei längerer Betrachtung aber ins Auge gesprungen. „I’m a Nurse“ von Franziska Böhler mit Jarka Kubsova hat meine Mutter mir zum Nikolaus 2020 geschenkt, einige Monate nachdem ich selbst den Pflegeberuf verlassen hatte. Zu dieser Zeit habe ich einfach Abstand von diesem Thema gebraucht, deshalb wanderte das Buch irgendwo auf meinen SuB. Doch als ich Ende September von meinem Regal stand, dachte ich: Eigentlich lese ich fast ausschließlich fiktive Geschichten, ein Sachbuch über den Pflegenotstand liegt also wirklich außerhalb meiner Komfortzone! Ich war besonders gespannt darauf, ob ich mich in den Fallbeispielen wiedererkennen würde. Oder ob ich Neues erfahren würde, obwohl ich den Beruf selbst erlernt und darin gearbeitet habe.
Inhalt
Franziska Böhler ist Krankenschwester auf einer anästhesiologischen Intensivstation. Das bedeutet für sie: Nachtdienste, Wochenend- und Feiertagsschichten, Überstunden, Unterbesetzung sowie viel Stress bei ebenso viel Verantwortung. Seit der Einführung des DRG-Systems werden Patienten nach Fallpauschalen abgerechnet. Der Weg hin zu einem profitorientierten Gesundheitssystems hat dieses selbst krank gemacht: Personal wird eingespart und schlecht bezahlt. Immer mehr Pflegekräfte verlassen den Beruf oder haben es ernsthaft in Erwägung gezogen. Was jedoch viele vergessen ist, dass hinter dem Pflegemangel Einzelschicksale stecken. Menschen, die mit Schmerzen stundenlang in überlasteten Ambulanzen liegen. Menschen, deren dringende Operation schon zum zweiten Mal verschoben wurde. Kinder, die auf dem Weg zur weit entfernten Kinderklinik versterben, weil es in der näheren Umgebung kein freies Bett mehr gibt. Und Krankenpfleger, die diesen Beruf nicht länger ausführen können oder wollen.
Cover
Auf dem Cover ist Franziska Böhler selbst in ihrem blauen Kasack, wie man ihn meist auf Intensivstationen trägt. Um ihren Hals hängt ein fuchsiafarbenes Stethoskop. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf nach unten geneigt, während sie lacht. Bei genauerer Betrachtung fällt ihr Nasenpiercing, das Tattoo an ihrem Unterarm sowie die dunkelblonden Haare, die zu einem Dutt hochgesteckt sind, auf. Das Foto zeigt klar: Böhler und ihre Erfahrungen stehen im Vordergrund, aber sie ist gleichzeitig das Sprachrohr ihres Berufsstands.
Kritik
„Ich bin Krankenschwester.“, ist der erste Satz des Vorworts. Kurz, prägnant, treffend. Er ist aber auch der letzte Satz des Vorworts sowie die Übersetzung des Titels, also ein sogenannter Title Drop. Das Vorwort ist in mehrere Unterkapitel unterteilt. Danach folgen Kapitel mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Böhler beleuchtet die Zustände in Geburts- und Kinderkliniken sowie auf Normal- und Intensivstationen. Das fast 250 Seiten lange Sachbuch endet mit Böhlers Plädoyer, warum sie trotz aller Widrigkeiten Krankenschwester bleibt.
Direkt zu Beginn fällt mir auf: Böhler berichtet nicht nur aus eigener Erfahrung, sondern zitiert Studien, Zuschriften von den Followern ihres Instagram-Accounts @thefabulousfranzi oder zieht die Meinungen von Experten heran. Bei ihr kommen also Ärzte, Altenpfleger, Hebammen, Auszubildende, Patienten und Angehörige zu Wort, die allesamt schildern, wie viel Leid der Kostendruck und der Personalmangel in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen verursachen. Und das auf beiden Seiten. An einer Stelle beschreibt Böhler, wie sie im Spätdienst auf ihrer Intensivstation drei Patienten betreut und es einem Mann zunehmend schlecht geht, sodass sie eine andere Patientin, die dringend auf Toilette muss, so lange vertrösten muss, bis die Patientin unter sich macht. Böhler hat ihre Prioritäten richtig gesetzt: Das Überleben des Patienten ist wichtiger als eine Notdurft, aber dass sie so sehr mit dem Notfall beschäftigt war, dass sie der Patientin nicht rechtzeitig auf Toilette helfen konnte, ist für die Patientin demütigend und für die Krankenschwester frustrierend. Mir ist mal etwas ähnliches passiert: Einer meiner Patienten hatte in sein Bett uriniert, weil ich aufgrund eines Notfalls erst nach etwa 10 Minuten ins Zimmer kommen konnte. Es tat mir für den Patienten sehr leid. Ich hatte dadurch, dass ich nun ein Bett frisch beziehen musste, noch mehr Arbeit. Außerdem bin ich mit dem unbefriedigenden Gefühl nach Hause gegangen, dass ich meinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden bin.
Böhler nutzt eine zugängliche Sprache und erklärt knapp und präzise alle relevanten Fachbegriffe. Der Stil ist klar, direkt und unkompliziert, weshalb die Seiten geradezu unter den Fingern wegschmelzen. Gleichzeitig hat das Buch auch emotionale Qualität, wenn Böhler oder andere Personen Anekdoten über persönliche Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem erzählen. Auch wenn es meist sachliche Schilderungen sind, sind sie doch sehr ergreifend, da es wahre Geschichten sind. Das letzte Kapitel, das von Tod und Palliativmedizin handelt, hat mir teilweise die Tränen in die Augen getrieben. Man merkt, dass Böhler Unterstützung hatte, eine so ehrliche, ungeschönte und doch starke Atmosphäre aufzubauen. Das Buch ist ein wahrlicher Pageturner! Ich versichere euch, dass man das locker an einem Wochenende weglesen kann.
Es ist so wichtig, dass die Relevanz von Pflegeberufen und die Wertschätzung, die sie verdient haben, in der Literatur abgebildet werden. Und darauf aufmerksam zu machen, dass bestimmte Aussagen, die man immer wieder von Patienten und Angehörigen zu hören bekommt, zwar nett gemeint sind, aber auch die tiefe Abscheu widerspiegelt, die manche Menschen vor der Pflege haben. Sätze wie: „Also ich könnte den Job ja nicht machen“, oder „Zur Krankenschwester muss man geboren sein. Das ist kein Beruf, sondern eine Berufung“, habe ich bestimmt wöchentlich gehört. Was als bewundernde Aussage verstanden werden kann, impliziert aber auch, dass Pflege in den Augen vieler Menschen auf Tätigkeiten wie alte Menschen waschen und ihnen den Hintern abwischen reduziert wird. Und wenn man zu diesem Beruf geboren sein muss, ließe sich der Personalmangel nicht beheben, da ja alle Personen, zu denen der Job passt, bereits in ihm arbeiten. Ich kann euch als Pflexit-Schwester sagen: Ich war auch nicht geboren für diesen Beruf, doch ich habe ihn trotzdem erlernen und ausüben können, weil ich mich in der Ausbildung weiterentwickelt habe. Weil ich gelernt habe, meinen anfänglichen Ekel zu überwinden und auch Dinge zu tun, die unschön sind. Und das können andere Menschen auch, wenn sie es nur wollen. Es fehlen aktuell schlichtweg die Anreize dafür.
Das Sachbuch endet mit Böhlers Plädoyer, warum sie den Job als Krankenschwester trotz aller Schwierigkeiten liebt, und ehrlich gesagt, ist das der größte Schwachpunkt von „I’m a Nurse“. Während man über 240 Seiten gelesen hat, wie belastend der Beruf heutzutage und wie kaputt das Gesundheitssystem ist, gibt es zum Schluss fünf knappe Seiten, die eigentlich keinen guten Grund liefern, sich das als Arbeitnehmer weiterhin bieten zu lassen. Im Gegenteil: Dieses Sachbuch erschien 2020, also gerade zu Beginn der Corona-Pandemie, und seitdem hat sich kaum etwas zum Guten verändert. Nachdem das Buch so eindrucksvoll verdeutlicht hat, wie tief die strukturellen Probleme liegen, sind Aussagen wie: „Trotz allem ist es ein wichtiger Job, den ich mit Leidenschaft ausübe“, wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Mich hat das Buch eher darin bestärkt, dass es die richtige Entscheidung war, aus der Pflege auszusteigen. Ich hatte keine Lust mehr, von Angehörigen beleidigt und von Patienten als inkompetent hingestellt zu werden. Ich hatte keine Lust mehr, einen Dienstplan vorgelegt zu bekommen, der gegen das Arbeitszeitgesetz verstößt. Ich hatte keine Lust mehr, nach zwölf Diensten am Stück am ersten freien Tag angerufen und gefragt zu werden, ob ich nicht einspringen kann. Ich hatte keine Lust mehr, der Geburtstagsparty meiner besten Freundin absagen zu müssen, weil ich dort Nachtdienst habe. Auch, wenn es bitter ist: Ich würde jedem, der zurzeit in Erwägung zieht, Pflegefachkraft zu lernen, davon abraten. Es gibt viele Berufe, mit denen man durch deutlich weniger Aufwand mehr Wertschätzung und Geld verdient. Denn wie Böhler es so treffend schreibt: „Wir [sind] Helden und Menschen zweiter Klasse gleichzeitig.“ (S. 33). Es zeigt so gut, wie ambivalent die Reputation von Krankenpflegern ist, die einerseits täglich Leben retten können, aber andererseits dafür belächelt werden, dass sie Menschen bei Toilettengängen helfen.
Fazit
Franziska Böhler gelingt mit „I’m a Nurse“ ein eindringliches und schonungslos ehrliches Sachbuch über den Zustand der Pflegeberufe. Sie schreibt klar, direkt und berührend, ohne in Selbstmitleid zu verfallen. Besonders stark ist das Buch, wenn es zeigt, wie strukturell marode das Gesundheitssystem ist und welchen Preis Mitarbeitende dafür zahlen. Die Mischung aus persönlichen Erlebnissen, Stimmen aus der Praxis und wissenschaftlichen Belegen macht das Werk sowohl informativ als auch berührend. Obwohl ich im Krankenhaus gearbeitet habe, habe ich Neues über den Arbeitsalltag von Hebammen und Altenpflegern gelernt. Schwächer fällt dagegen Böhlers Plädoyer aus, das angesichts der zuvor beschriebenen Missstände zu kurz und zu versöhnlich wirkt. Deswegen bekommt das Buch aus dem Jahr 2020 von mir vier von fünf Federn. Vielleicht kann es einen Beitrag dazu leisten, dass mehr Menschen bewusst wird, was Pflegekräfte tatsächlich leisten, damit ihnen endlich verständnis- und respektvoller begegnet wird.

Liebe Lara,
wie immer eine mega gute Kritik.
Die richtige Entscheidung deines Lebens den Beruf zu erlernen den du jetzt gewählt hast.
Respekt an alle die im Beruf der Pflege arbeiten,aber das hatte ich eigentlich schon immer.
Pöbel n können nur dumme Menschen.
LG O.K
Liebe Otti,
vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast. Ich denke, Respekt und Dankbarkeit für Menschen in der Pflege sollten selbstverständlich sein, doch leider bekommen Pflegekräfte oft den Frust ab, der durch systemische Probleme entstanden ist.
Ich wünsche dir schon mal einen guten Start ins Wochenende!
LG