Miss Kim weiß Bescheid
Acht feministische Kurzgeschichten aus Südkorea
Meine Dezember-Rezension 2024
Das Motto für die Lesechallenge im Dezember lautete: „Das Jahr neigt sich dem Ende zu – lies ein Buch, das 2024 erschienen ist“. Das ist für mich ehrlich gesagt immer die schwierigste Challenge, da ich bspw. Reihen gerne vollständig kaufe oder bei vielen Büchern darauf warte, dass es als Taschenbuch erscheint. Das einzige Buch, das ich dieses Jahr spontan gekauft habe, und das auch dieses Jahr (zumindest als Taschenbuch) veröffentlicht wurde, ist „Miss Kim weiß Bescheid“ von Cho Nam-Joo. In meiner Buchhandlung gab es nämlich eine Ecke mit Büchern aus Asien und ich hatte Lust, mal ein Buch zu lesen, das nicht von einem deutsch- oder englischsprachigen Autoren geschrieben wurde. Deswegen habe ich mich für diese feministische Kurzgeschichtensammlung aus Südkorea entschieden.
Inhalt
Kim Dongju ist über 80 Jahre alt, aber dennoch die jüngste von drei Schwestern. Ihre älteste Schwester Kumju ist an Demenz erkrankt und lebt in einem Seniorenheim. Dongju besucht sie zwar recht regelmäßig, doch aufgrund ihrer demenziellen Veränderung erinnert sie sich oft nicht daran. Die mittlere Schwester Unju ist bereits an Krebs verstorben und auch Kumju hat vermehrt gesundheitliche Probleme. Dongju weiß, dass auch ihr Tod nicht mehr allzu weit entfernt liegt.
Die Autorin Choah erhält zahlreiche Hasskommentare und Morddrohungen, nachdem sie einen feministischen Roman veröffentlicht hat. Doch nicht nur fremde Menschen kritisieren sie aufs Schärfste. Auch ihre ehemalige Lehrerin Kim Hyewon wirft ihr vor, ihre eigene Biografie, die sie ihrer ehemaligen Schülerin einst im Vertrauen erzählt hat, ohne ihre Zustimmung in ihrem Buch verarbeitet zu haben. So wird Choah gegen ihren Willen zu einer Ikone der Frauenrechtsbewegung und muss lernen, mit dem Hass umzugehen, der ihr tagtäglich entgegen schlägt.
Acht koreanische Frauen mit acht verschiedenen Schicksalen erzählen ihre nicht ganz alltäglichen Geschichten darüber, was es bedeutet, eine Frau in einer patriarchalen Gesellschaft zu sein. Auch wenn Südkorea für uns geografisch weit entfernt sein mag, sind es diese feministischen Kurzgeschichten überhaupt nicht.
Cover
Das Cover zeigt die Illustration einer weißen Frau mit langen, schwarzen, glatten Haaren, also dem klassischen Erscheinungsbild einer Koreanerin. Allerdings ist ihr Gesicht abstrahiert und ohne sichtbare Details wie Augen, Mund oder Nase. In ihrem Gesicht steht der Titel des Buches. Das Cover weist also deutliche Parallelen zu dem des anderen Werkes von Cho Nam-Joo auf, „Kim Jiyeoung, geboren 1982“. Der knallblaue Hintergrund wird oben und unten jeweils von roten Zweigen mit Blüten kontrastiert. Die minimalistische Gestaltung ist mit ihren klaren Linien und starken Farben sehr modern. Ich finde das Cover ansprechend, schließlich war es in meinem Fall ein Spontankauf. Das Cover muss mir also ins Auge gefallen sein und der Klappentext konnte mich schließlich überzeugen.
Kritik
„Ich holte die Medizinbox aus dem Küchenschrank.“, ist der erste Satz der ersten Kurzgeschichte Unter dem Pflaumenbaum. Erst, wenn man die erste Kurzgeschichte beendet hat, begreift man, dass dieser Satz nicht rein zufällig gewählt wurde, sondern symbolisch für die Notwendigkeit von Arzneimitteln im fortgeschrittenen Alter steht. Denn die erste Geschichte erzählt die Protagonistin Kim Donju aus der Ich-Perspektive im Präteritum. Sie handelt vorwiegend vom Altern als Frau mit allem, was damit verbunden ist, wie bspw. Krankheit, körperliche Schwäche oder den näher kommenden Tod. Es geht aber auch darum, wie alte Frauen in der Gesellschaft unsichtbar gemacht werden und wie ihnen das Gefühl vermittelt wird, eine zeitliche und finanzielle Belastung für die Familie zu sein. Außerdem wird das Thema Trauerbewältigung angeschnitten, denn je älter eine Person wird, umso mehr gleichaltrige Menschen wird sie zu Grabe tragen müssen. Bereits die erste Kurzgeschichte scheut nicht davor zurück, Themen anzuschneiden, die in unserer Gesellschaft als schwierig gelten oder gar tabuisiert werden. Doch das Brechen dieser Tabus ist wichtig, um auf soziale Probleme hinweisen zu können.
Cho beweist mit ihrer Kurzgeschichtensammlung einen prägnanten, direkten und doch feinfühligen Schreibstil. Überflüssige Ausschmückungen werden vermieden und Beobachtungen werden oft nüchtern und sachlich beschrieben, wodurch die soziale Realität sowie Parallelen bei Ungleichheit und struktureller Diskriminierung verstärkt werden. Obwohl der Stil distanziert wirken kann, gelingt es Cho doch, eine emotionale Resonanz hervorzurufen. Die Figuren stehen mit ihren individuellen Geschichten im Vordergrund, die scheinbar alltägliche Situationen erleben, in denen gesellschaftliche Missstände offen gelegt werden. Dass Frauen auch in scheinbar fortgeschrittenen Ländern systematisch benachteiligt werden, zieht sich wie ein roter Faden durch die Kurzgeschichten. Es ist enorm wichtig, dass die Kämpfe von Männern und Frauen um Geschlechtergleichberechtigung nicht übersehen werden.
Insgesamt werden acht Kurzgeschichten mit folgenden Titeln erzählt: Unter dem Pflaumenbaum, Trotz, Weggelaufen, Miss Kim weiß Bescheid, Lieber Hyunnam, Die Nacht der Polarlichter, Große Mädchen sowie Erste Liebe, 2020. Die Protagonistinnen sind Koreanerinnen unterschiedlichen Alters und sozialer Herkunft. Von manchen Hauptfiguren, wie z.B. der aus Unter dem Pflaumenbaum erfährt man den vollständigen Namen als auch ihre Namensänderung, die sie nach dem Tod ihrer Eltern vollzogen hat. Bei anderen Protagonistinnen, wie der von Trotz wird lediglich der Vorname genannt und andere wiederum erhalten nie einen Namen. Das habe ich persönlich als störend empfunden und erschwerte mir auch die Formulierung der Rezension, da ich einige Figuren eben nicht namentlich benennen kann. Grundsätzlich können die Namen für europäische Leserinnen verwirrend sein, da in diesem Buch wahnsinnig viele Figuren den Nachnamen Kim tragen. In Südkorea ist das der häufigste Nachname, was historische, kulturelle und genealogische Gründe hat. Etwa 21% der Südkoreaner tragen diesen Nachnamen. Deswegen ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass in fast jeder Kurzgeschichte eine Figur mit dem Namen Kim vorkommt. Für Europäer kann es auch irritierend sein, dass bei Koreanern zuerst der Familien- und dann der Individualname genannt wird. So steht auf dem Cover der Name der Autorin Cho Nam-Joo, wobei Cho sozusagen ihr Nachname und Nam-Joo ihr Vorname ist. Grundsätzlich fallen in den Geschichten immer wieder koreanische Begriffe, bspw. für Lebensmitteln, unter denen sich manche europäischen Leserinnen wohl wenig vorstellen können.
Bei acht Kurzgeschichten ist es nicht weiter verwunderlich, dass nicht alle gleich überzeugend sind. Mein persönlicher Favorit war Lieber Hyunnam, in der die 30-jährige Protagonistin ihrem Freund Hyunnam, mit dem sie zehn Jahre zusammen war einen Brief schreibt, in dem sie ihm erklärt, warum sie seinen Heiratsantrag ablehnt und mit ihm Schluss macht. Am wenigsten hat mir Trotz gefallen, weil die Geschichte sehr plötzlich endet und viele Fragen offen bleiben. Auch wenn Cho darin offenbar autobiografische Erlebnisse verarbeitet, ist diese Kurzgeschichte meiner Meinung nach nichtssagend. Die drei Kurzgeschichten Unter dem Pflaumenbaum, Die Nacht der Polarlichter und Große Mädchen sind dagegen besonders lesenswert.
Grundsätzlich behandelt jede Kurzgeschichte eine andere Form von weiblicher Ungleichbehandlung in der modernen koreanischen Gesellschaft. In Unter dem Pflaumenbaum geht es ums Altern, das mit dem Verlust vermeintlich weiblicher Attribute einhergeht: Fürsorge und Schönheit. Gerade in Korea haben extrem viele Frauen einen plastischen Eingriff hinter sich und weibliche K-Popstars setzen unrealistische Schönheitsideale in puncto makelloser weißer Haut, einer extrem schlanken Figur und einer niedlichen Ausstrahlung. Je älter Frauen werden, umso weniger entsprechen sie diesen Idealen und umso weniger gesellschaftliche Aufmerksamkeit erhalten sie, da Frauen häufig auf ihr Äußeres reduziert werden. Außerdem wird von Frauen häufig erwartet, den Haushalt zu führen und sich mit Familienmitglieder zu kümmern. Dies kehrt sich im Alter um, wenn die Frauen selbst auf Pflege angewiesen sind. Unter dem Pflaumenbaum zeigt eindrucksvoll, wie wenige Familienmitglieder tatsächlich bereit dazu sind, sich um ihre alternden Mütter zu kümmern, die sich ein Leben lang um andere gekümmert haben. Andere Kurzgeschichten behandeln bspw. sexistische Hasskommentare, familiäre Machtverhältnisse, Ungleichbehandlung von Frauen im Beruf, Gaslighting und Manipulation, Care-Arbeit, häusliche Gewalt oder Upskirting.
Fazit
„Miss Kim weiß Bescheid“ von Cho Nam-Joo ist eine schöne Kurzgeschichtensammlung, die tief in die gesellschaftlichen Strukturen Südkoreas eintaucht und die Geschlechterungleichheit eindrucksvoll beleuchtet. Mit einem präzisen und doch einfühlsamen Schreibstil gelingt es der Autorin, alltägliche Situationen zu nutzen, um systemische Missstände offenzulegen und die Lebensrealität von Frauen unterschiedlicher Generationen und Hintergründe darzustellen. Da manche Kurzgeschichten überzeugender sind als andere, habe ich sie einzeln bewertet und den Durchschnitt als Gesamtbewertung genutzt. Im Schnitt haben die acht Geschichten eine Wertung von 3,6. Aufgrund der thematischen Relevanz von Frauenfeindlichkeit in modernen Gesellschaften runde ich meine Bewertung auf vier von fünf Federn auf. Eine literarische Auseinandersetzung mit diesen Themen halte ich für sehr wichtig, deshalb gibt es für diese Kurzgeschichten aus dem Jahr eine klare Leseempfehlung!