Anne in Kingsport

Anne in Kingsport
17. Juli 2018 0 Von lara

Anne auf dem Weg ins Glück

Meine März-Rezension 2017


Nachdem mir die Geschichte der rothaarigen Anne so gut gefallen hat, konnte ich nicht umhin, mir die Fortsetzung zu holen. Letztes Jahr ist sie mir auf der Frankfurter Buchmesse förmlich in die Hände gefallen. Der Doppelband enthält den dritten sowie vierten Teil der Reihe mit den Namen „Anne in Kingsport“ und „Anne in Windy Willows“. Lucy Maud Montgomery verbrachte ihre Kindheit übrigens selbst auf Prince Edward Island, dem Handlungsort der Anne-Reihe, an der sie mit Unterbrechungen 31 Jahre schrieb. Der Handlungszeitraum dagegen erstreckt sich über 43 Jahre. Die Teile, um die es in dieser Rezension geht, erschienen 1915 und 1936.

Inhalt

Im September des Jahres 1884 ist die Protagonistin Anne Shirley bereits 18 Jahre alt. Nach dem Tod ihres geliebten Adoptivvaters Matthew gibt es auf Green Gables einige Probleme: die Bank der Cuthberts ist insolvent und stellt Marilla vor große finanzielle Probleme. Außerdem verstirbt ihre Cousine und hinterlässt Zwillinge, denen ohne Marillas Adoption nur das Waisenheim bliebe. Aus Mitleid und Pflichtgefühl findet das Geschwisterpaar in Avonlea ein neues Zuhause, doch vor allem der sechsjährige Junge Davy entpuppt sich als Problemkind. Anne beginnt ihr Studium und ihre beste Freundin Diana verlobt sich mit ihrem Freund Fred. Zu allem Übel erkrankt Rachel Lyndes Mann Thomas noch schwer, sodass sich die Ereignisse in dem kleinen Dorf regelrecht überschlagen und es für Anne viel zu tun gibt.
 

Cover

Ganz ähnlich wie schon im Vorgänger ist das Cover wieder eine kolorierte Zeichnung, die die Protagonistin Anne abbildet. Ihr Profil ist auf einer Wiese sitzend zu sehen, sie trägt ein blaues Kleid mit weißem Kragen, dessen Ärmel bis zu den Ellenbogen reichen und sie hat ihre Haare zu einem Dutt gebunden. Auf ihrem Schoß liegt ein kleiner Stapel Papiere, den sie mit der linken Hand festhält, während in ihrer rechten Hand ein Stift liegt. Sie scheint in ihre Notizen vertieft zu sein. Im Hintergrund ist neben Gebüsch noch links ein weißes Gebäude mit einem Spitzturm zur rechten Seite zu erkennen.
Erneut zeigt das Cover gelungen Protagonistin, Handlungsort und durch Architektur, Mode und der Tatsache, dass es wieder eine Zeichnung ist, auch die grobe Handlungszeit. Damit knüpft es wunderbar an den Vorgänger an und animiert zum baldigen Lesen.
 

Kritik

Mit über 500 Seiten ist dieses Buch mehr als 100 Seiten kürzer als sein Vorgänger. Die Länge der Kapitel, oder viel mehr die Kürze, bleibt aber altbekannt. Auch wie gewohnt berichtet der auktoriale Erzähler im Präteritum, der dieses Mal sogar manchmal von sich selbst oder „[s]einen Lesern“ spricht. Strukturell grenzt sich „Anne in Windy Willows“ in einem Punkt von allen anderen Werken der Reihe ab: Es besitzt drei Oberkapitel, die die Jahre voneinander trennen, sodass 1888 bis 1891 klar gegliedert sind.

 

Schon am Ende von „Anne in Avonlea“ wird deutlich gemacht, dass die Protagonistin ihre Kindheit hinter sich gelassen hat und nun neue Themen ihr Leben beherrschen, wie die Loslösung von ihrer Adoptivmutter Marilla, das Studium, die erste große Liebe oder der Beginn der Unabhängigkeit. Trotzdem bleibt sie in manchen Dingen ganz die Alte, in erster Linie mit dem lebhaften Fantasieren in der freien Natur, sodass der Leser ihre facettenreiche Persönlichkeit klar wiedererkennt.

 

Doch auch die anderen Figuren sind nach wie vor unverkennbar, zum Beispiel der freche Davy, der weinend auf dem Sofa liegt, nachdem seine Schwester die Treppe herunter gefallen ist. Als Anne versucht ihn zu trösten, gesteht er, dass er nur weine, weil er den Sturz und die Gelegenheit Dora auszulachen, verpasst habe. Wer mich kennt, ahnt schon, dass ich an dieser Stelle gelacht habe, während Anne es sich wohl oder übel verkneifen musste.

 

Durch das Studium findet ein Ortswechsel von Avonlea nach Kingsport statt, wodurch viele mir ans Herz gewachsene Charaktere wie Marilla, Mrs. Lynde oder Diana leider nur noch durch Briefe an Anne oder durch Besuche in den Semesterferien von sich hören lassen. Zum Glück begleiten aber Priscilla und Gilbert die Protagonistin in Redmond. Mit ihrer neuen Freundin Philippa bin ich aber traurigerweise überhaupt nicht warm geworden. Bei ihrer ersten Begegnung erzählt sie zum Beispiel, dass sie die männlichen Studenten aus dem Erstsemester alle hässlich findet, sie zuhause zwei Verehrer habe, die sehnlichst auf sie warten und sie sich noch neue Liebhaber aus den höheren Semestern anlachen wird, um sich dann den wohlhabendsten von allen herauszusuchen, denn von Liebe halte sie nichts. Der Erzähler betont zwar immer wieder, dass Philippa weder arrogant noch oberflächlich sei, doch wie soll man dieses Verhalten sonst bezeichnen?

 

Ich hatte es gerade schon kurz angeschnitten und auch am Ende von „Anne in Avonlea“ gab es eine Andeutung, dass aus Gilbert und Anne ein Paar wird. Für mich persönlich war es eigentlich schon ab „Anne auf Green Gables“ abzusehen, als sie in ihrem ersten Jahr an der Schule in Avonlea ihm aus Wut ihre Schiefertafel über den Kopf schlug. Was sich liebt, neckt sich ja bekannterweise! Trotzdem hat mich die Beziehung der beiden nicht berührt. Schon Gilberts zaghafte Annäherungsversuche, die Anne regelmäßig zurückweist, um sich anschließend aufzuregen, dass er sich danach mit einem anderen Mädchen unterhält und Witze macht, geben der sonst so liebenswürdige Protagonistin einen Makel. Bis es dann nach einem großen Hin und Her endlich zu der vollkommen absehbaren Partnerschaft kommt, hat es mir viel zu lange gedauert, da von Spannung leider jede Spur fehlte.

 

Allgemein wird Anne häufiger ernüchtert, sei es bei ihren romantischen Vorstellungen eines Heiratsantrages, von denen sie im Übrigen nicht nur einen erhält, oder in ihrer Mädchen-WG. Die kindliche und naive Atmosphäre verblasst immer mehr, was der Geschichte einen Dämpfer verpasst, auch wenn der Leser ursprünglich mit der Protagonistin altern sollte.

 

Was mir jedoch sehr gut gefallen hat, ist die Tatsache, dass eine Romanfigur, die im frühen 20. Jahrhundert kreiert wurde, nach höherer Bildung strebt und sich nicht den üblichen Konventionen des späten 19. Jahrhunderts unterwirft. Für die heutigen Verhältnisse ist Anne zwar nicht sonderlich emanzipiert, zumal sie in ihrer Bildung zwar nicht weit, aber doch erkennbar unter Gilbert steht, allerdings setzt sie ihre Träume in Bezug auf Studium, Beruf und Heirat in die Wirklichkeit um und beweist somit ihre Unabhängigkeit. Dieser Punkt sollte absolut nicht verkannt werden, denn damals gab es nur wenig literarische Werke, die Frauen so viel Stärke und Zuspruch gewährten.
 

Fazit

Vergleicht man „Anne in Kingsport“ mit „Anne in Windy Willows“ muss ich gestehen, dass mir der dritte Band besser gefallen hat als der vierte. Dieser war zwar auch gut, jedoch hat es mir einfach an signifikanter Story gefehlt, die Annes Leben auf Dauer beeinflusst. Trotzdem hat mir die Fortsetzung gefallen und es war schön, eine so herzensgute Figur wie Anne erneut begleiten zu dürfen. Die Frage, welcher Moment der beste ist, um sich von Anne Shirley zu verabschieden, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Die Reihe beinhaltet insgesamt acht Bände. Im letzten Teil ist Anne schon 54 Jahre alt, auch wenn ab dem sechsten Band nicht mehr sie, sondern eher ihre Tochter Bertha die Funktion der Protagonistin übernimmt. Je weiter die Reihe fortschreitet, umso weniger erfreut sie sich auch an Popularität: ein Band aus dem Jahr 1919 wurde erst 2013 erstmals ins Deutsche übersetzt. Für mich ist jetzt Schluss mit Anne Shirley. Sie ist nun erwachsen, somit ist die süße Geschichte des kleinen Mädchens erzählt und ich habe nicht das Bedürfnis ihr Leben als Mutter zu verfolgen. Es wäre für mich rückblickend aber auch in Ordnung gewesen, sie schon nach „Anne in Avonlea“ zu verlassen, da die Andeutungen am Ende schon viel über ihren Werdegang verraten haben. Montgomery hat die Reihe vor allem aus kommerziellen Gründen fortgesetzt, was ich nicht verwerflich finde, man es aber besonders am Ende der beiden ersten Teile merkt, die wirklich noch wie ein richtiges Ende geschrieben wurden, was bei den anderen nicht mehr zutrifft. An „Anne auf Green Gables“ kommt für mich kein Band der Reihe mehr heran; die Qualität lässt bei den Fortsetzungen schleichend nach. Deswegen gebe ich diesem Doppelband drei von fünf Federn.