Anne auf Green Gables

Anne auf Green Gables
17. Juli 2018 4 Von lara

Das rothaarige Mädchen

Meine Februar-Rezension 2017

 

Als ich klein war, durfte ich als einzigen Fernsehsender nur Kika gucken, da die anderen Kanäle Werbeunterbrechungen beinhalteten. Die liebsten Serien sind uns allen natürlich am meisten in Erinnerung geblieben, aber es gibt einen Anime, der mir sehr ans Herz gewachsen ist und den aus meinem Freundeskreis scheinbar niemand mehr kennt. Er heißt „Anne mit den roten Haaren“. Erst im Englischunterricht in der Mittelstufe bin ich auf einen Textauszug gestoßen, durch den ich erfahren habe, dass der japanische Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1979 auf einem Kinderbuch aus dem Jahr 1908 basiert: „Anne auf Green Gables“ von Lucy Maud Montgomery. Die Geschichte über ein quirliges rothaariges Mädchen ist im englischsprachigen Raum so berühmt wie in Deutschland „Pippi Langstrumpf“ und tatsächlich hat sich Astrid Lindgren von der Figur der Anne Shirley inspirieren lassen und daraus das starke Mädchen im kunterbunten Haus mit Äffchen und Pferd gemacht. Doch auch der Anime erfreute sich in Japan großer Popularität und bis heute reisen japanische Touristen nach Kanada, um den Handlungsort besichtigen zu können. 2016 wurde sogar ein kanadischer Fernsehfilm gedreht, der auch in deutscher Synchronisation erhältlich ist. In Deutschland ist die Geschichte leider weniger bekannt und ich hoffe das hiermit ein kleines Stück weit ändern zu können. In diese Rezension fließt außerdem auch die Fortsetzung „Anne in Avonlea“ mit ein, da ich den Doppelband gelesen habe.

Inhalt

Im Juni 1877 führt das Geschwisterpaar Matthew und Marilla Cuthbert einen Hof in Avonlea, einer fiktiven Halbinsel auf der real existierenden Prince Edward Island in Kanada. Da beide schon etwas in die Jahre gekommen sind und sich nicht mehr in der Lage fühlen, den Hof weiterhin selbständig zu führen, planen sie, einen Waisenjungen aufzunehmen. Als jedoch dann am Bahnhof ein kleines rothaariges Mädchen steht, will vor allem Marilla sie anfangs im Waisenheim auf dem Festland wieder gegen einen Jungen tauschen. Dem aufgeweckten und fantasievollen Wirbelwind gelingt es jedoch schnell ihre Herzen für sich zu gewinnen und so beginnt die Geschichte seiner Kindheit auf Green Gables, dem Haus mit den grünen Giebeln. Da Anne sehr temperamentvoll ist, bringt sie in das sonst so friedliche und beschauliche Dorf immer wieder neue Abenteuer.

Cover

Der Handlungszeit entsprechend ist das Cover kein Foto, sondern eine kolorierte Zeichnung, die die kleine Anne in ihrem gelbbraunen Flanellkleid zeigt, das sie bei ihrem ersten Auftritt am Bahnhof trägt. Mit zwei roten Schleifen sind ihre gleichfarbigen Haare zu zwei geflochtenen Zöpfen gebunden und sie trägt einen Strohhut. Dabei schaut sie den Betrachter direkt an. Auf der rechten Seite des Hintergrundes sieht man ein Haus mit Veranda und weißer Holzverkleidung. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um Green Gables, auch wenn am Fenster im ersten Stock leider keine Giebel zu erkennen sind. Im Vorgarten stehen außerdem noch blaue Blumen, die einen schönen Kontrast zum Rest der Zeichnung geben. Mir gefällt die Schlichtheit des Covers, das geschickt Protagonistin, Handlungsort und subtil auch die Handlungszeit zeigen.

Kritik

Die Geschichte beginnt mit Mrs. Rachel Lynde, einer Nachbarin der Cuthberts, die Matthew im Sonntagszwirn auf der Kutsche das Dorf verlassen sehen hat. Erst im zweiten Kapitel taucht die Protagonistin auf. Somit ist die Erzählperspektive auch schon sonnenklar: auktorial. Die Persönlichkeit des Erzählers hat mir besonders gut gefallen. Mit leichter Ironie und spitzen Bemerkungen offenbart er die Gedankengänge der Erwachsenen und zeigt auf vielfältige Weise, dass sich manch kindischer Wesenszug nie verwächst. Matthews Schüchternheit vor Frauen, Marillas Strenge oder Mrs. Lyndes Neugier, die sie als Sorge um ihre Mitmenschen tarnt, um danach ausgiebig zu Tratschen, sind nur einige Beispiele, die den Leser zum Schmunzeln bringen können. Jeder Charakter, egal wie präsent, hat eine eigene unverkennbare Persönlichkeit mit seltenem Tiefgang. Am besten ist das natürlich an der Hauptfigur Anne zu erkennen. Sie ist verträumt, gutmütig, dickköpfig, redseilg, naturverbunden gemischt mit einem Hang zur Dramatik.
So schildert sie manchmal ihre roten Haare und Sommersprossen als katastrophales Schicksal, das sie zu einem Leben seelischer Qualen verdammt und schwärmt im nächsten Moment minutenlang von der wunderschönen Tulpe im Garten. Wirkt sie am Anfang vielleicht noch etwas eigenartig und sprunghaft, schließt man sie als Leser, genauso wie fast alle anderen Figuren, schnell ins Herz. Denn egal in was für eine missliche Lage sie als nächstes gerät, nie geschieht es aus böswilliger Absicht oder rebellischer Haltung, sondern meistens aus einer Mischung aus Pech, Naivität und Engstirnigkeit. Als Anne nach Green Gables kommt, ist sie elf Jahre alt; am Ende des Doppelbandes ist sie bereits 18. Es ist also vor allem an ihr eine starke charakterliche Entwicklung festzustellen. Sie wird schweigsamer und ihre Wortwahl angemessener, obwohl ihr Gedankenfluss nicht nachlässt. Der Reifeprozess macht sich aber auch in ihrer verbesserten Disziplin und gesunden Skepsis bemerkbar. Da ich das Buch rasend schnell gelesen habe, stimmte es mich fast schon traurig, das kleine Plappermaul bereits ab der Hälfte hinter mir gelassen zu haben, obwohl sie sich eigentlich nur positiv entwickelt hat.
Die Kapitel sind alle auffallend kurz, keines ist länger als 15 Seiten. Jedes beschäftigt sich mit einem besonderen Ereignis, beispielsweise Annes erster Begegnung mit ihrer besten Freundin Diana, dem ersten Schultag oder als sie einem Hausierer schwarze Haarfarbe abkauft. So werden auf insgesamt über 600 Seiten viele kurze Anekdoten erzählt, auch wenn zwischen manchen Kapiteln wieder Monate liegen. Durch das Tempus Präteritum wird klar gezeigt, dass die Geschichte in der Vergangenheit spielt, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches nämlich schon über 30 Jahre. Dass das Buch heute schon über 100 Jahre auf dem Buckel hat, merkt man der Sprache kaum an. Es ist und bleibt einfach zeitlos, auch wenn die Elektrizität die Halbinsel noch nicht erreicht hat und Religion sowie Patriotismus noch eine große Rolle spielen.
Sehr treffend fand ich die Atmosphäre in Avonlea: Es ist ein süßes, sonniges und idyllisches Dorf mit den typischen Merkmalen. Jeder kennt jeden, im Allgemeinen herrscht Beständigkeit und schon bei den geringsten Veränderungen wird getratscht und verglichen. Gerade in so einer fast fremdenfeindlichen Umgebung hat es ein temperamentvolles Adoptivkind wie Anne besonders schwer. Doch viel Schlimmeres als der normale Alltag mit Missgeschicken, Krankheiten und Abschieden von lieben Menschen passiert dort nicht und sie schafft es ein Teil der Gemeinde zu werden.
Ein kleines Manko: Montgomery selbst, beziehungsweise ihre Übersetzer scheinen sich bei dem Namen von Annes erstem Lehrer nicht ganz einig gewesen zu sein: Erst heißt er Mr. Philip, dann Mr. Phillips und zum Schluss sogar Mr. Phillipp. Wie sein wahrer Name ist, werden wir wohl nie erfahren!

Fazit

„Anne auf Green Gables“ hat mich mit seiner leichten, lockeren und harmonischen Art bezaubert. Ich finde es schade, dass die Bekanntheit in Deutschland eingeschränkt ist, denn es ist ein fantastisches Kinderbuch für verträumte Mädchen, aber auch für Erwachsene immer noch sehr lesenswert. Es ist einfach eine liebenswürdige und herrliche Geschichte, die wirklich jeder Fan von Kinderliteratur gelesen haben sollte.
Die Fortsetzung „Anne in Avonlea“, die in dem Doppelband mit enthalten ist, hat mir ebenfalls gut gefallen, sie hat es mir aber nicht so stark angetan wie ihr Vorgänger. Deswegen gebe ich dem Doppelband sehr gute vier von fünf möglichen Federn. Aus diesem Grund werde ich mich als Nächstes dem dritten Band der Reihe namens „Anne in Kingsport“ widmen.